Süddeutsche Zeitung

Architektur und Musik:Der Klang der Hagia Sophia

Von Tomas Avenarius

Vieles ist gesagt und geschrieben worden über die Hagia Sophia. Über das Museum, die Kirche, die Moschee, den politischen Zankapfel. Nichts gesagt wurde über die "Kirche der göttlichen Weisheit" als musikalisches Instrument. Wissenschaftler der Stanford-Universität haben mithilfe des "Cappella Romana"-Chors und digitaler Technik rekonstruiert, wie die Hagia Sophia klang, als dort noch griechisch- orthodox gebetet und gesungen wurde, wie die Architektur den Klang formte und den Menschen in den Himmel hob.

Der Dokumentarfilm "Die Stimme der Hagia Sophia" zeigt, was die Architekten im sechsten Jahrhundert im Sinn hatten. In dem Film wird erklärt, wie Bauweise und Material - Marmor, Säulenanordnung, Kuppeln - eine Akustik mit der sensationellen Nachhalldauer von zwölf Sekunden garantieren. Und er zeigt, wie dieses Klangerlebnis 1500 Jahre später live gehört werden kann: Mit moderner Technik und der auf geistliche Musik aus Byzanz spezialisierten "Cappella Romana", aufgeführt in der Bing Hall in Stanford. Dort wurde dem Live-Klang der Chorstimmen der digital rekonstruierte Klangraum der ursprünglichen Hagia Sophia beigemischt - ein Klangerlebnis, das seit 500 Jahren eigentlich unmöglich ist: Der originale Innenraum existiert nicht mehr, nach der Eroberung Konstantinopels 1453 wurde aus der Kirche die Moschee, die bis heute mit Kanzel und Gebetsemporen zugestellt ist. Präsident Erdogan hat nach dem 86-jährigen Museums-Zwischenspiel wieder eine Moschee daraus gemacht und den Raum mit einem Klangkillerteppich auslegen lassen.

So geht verloren, was diese einmalige Akustik bedingt: Der Marmorboden, der mit den Flächen der Wände und Kuppeln korrespondiert. Dies macht den "nassen" Klang des Gebäudes aus und steht für die theologische Idee hinter der Architektur. Der geäderte Marmorboden als endloses Meer - das griechische Wort für Marmor und für Meer hat dieselbe Wurzel. Die schwebende Kuppel als Gottes goldenes Auge. Und die singenden Gläubigen auf dem offenen Meer, mit der Kirche als Arche, dem Hort der Rettung. Das lässt sich in Istanbul so nicht mehr erleben. Aber es gibt die menschengemachte Digitaltechnik - in diesem Fall als Mittel zur Zwiesprache mit Gott.

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SZ vom 01.08.2020
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