Süddeutsche Zeitung

Zeitgenössische Architektur aus Taiwan:Nicht von Pappe

Eine Ausstellung im Architekturmuseum der TU München zeigt anhand von Architektur aus Taiwan, was zu gewinnen ist, wenn gesellschaftliche Verantwortung bei der Stadtplanung im Mittelpunkt steht.

Von Evelyn Vogel

Der Titel der Ausstellung ist so provokant wie vielsagend: "Taiwan ACTS!" Denn wie dieses Handeln verstanden werden soll, das lassen die Versalien offen. So kann der Titel ebenso als Akt politischer Selbstbehauptung Taiwans wie als Beschreibung eines dynamischen gesellschaftlichen Prozesses verstanden werden. Beides kommt in der Ausstellung des Architekturmuseums in der Pinakothek der Moderne zum Ausdruck - auch wenn die Verantwortlichen peinlich genau darauf bedacht waren, Taiwan in der Präsentation keinerlei Staatsbezeichnungen oder -symbole zuzuweisen. Denn noch immer ist dessen völkerrechtliche Stellung umstritten, sieht China den demokratischen Inselstaat als Teil seines Territoriums an und empfindet jedwede Unabhängigkeitsanerkennung als Affront.

Partizipation statt Top-Down-Entscheidungen lautet die Devise in Taiwans Stadtentwicklung

Längst aber hat sich dieser Inselstaat zu einer demokratischen und ökonomischen Macht in Ostasien entwickelt. Und er gilt als Staat mit ausgeprägtem Gemeinwesen. Wie stark dieses in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt ist, zeigte sich nach dem Erdbeben von Jiji im September 1999. In der Folge entstanden zahlreiche Architektur-Initiativen, die gesellschaftliche Verantwortung von Architektur in den Mittelpunkt rückten, um damit die Lebensbedingungen für die Menschen sozialer und nachhaltiger zu gestalten. Ein Architekturverständnis, von dem auch Deutschland in Hinblick auf mehr gemeinschaftlich gestalteten und öffentlich genutzten Raum lernen sollte.

Partizipation und Bottom-Up- statt Top-Down-Entscheidungen in der Stadtentwicklung werden in Taiwan seither groß geschrieben. Dass die Prozesse dabei oft langwierig sind, dass manches anfangs auch beinahe anarchisch auf den Weg gebracht wurde, das zeigt die von den Architekten Chen-Yu Chiu und Chun-Hsiung Wang kuratierte Ausstellung auch. Erstmals erhält man in Europa derart detaillierte Einblicke in die junge Baukultur Taiwans, worauf Andreas Lepik, Direktor des Architekturmuseums der TU München, nicht wenig stolz ist.

Die Ausstellungsarchitektur aus Pappe ist meilenweit vom Glamour einer Star-Architektur entfernt

Quer durchs Land führen die mehr als 100 vorgestellten Projekte zu Architektur, Stadtplanung und Infrastruktur. Schon die Ausstellungsarchitektur in der Pinakothek der Moderne, aus Pappe aufgebaut, ist meilenweit vom Glamour einer Star-Architektur entfernt. Auf bis zu raumhohe Paneele, die in ihrem Auf und Ab die geologische Formation des Inselstaats mit seinem von Norden nach Süden verlaufenden, langgestreckten Gebirgsrücken imitieren, werden Fotos und Filme projiziert. Und nachdem sie mit tagelanger Verspätung endlich aus dem Zoll gekommen waren, ergänzen inzwischen zahlreiche, ebenfalls oft simpel gestaltete und doch aussagekräftige Modelle die Projekte.

Ein schönes Beispiel, wie aus einer kleinen lokalen Intervention ein städtebaulich relevantes Netzwerk entstehen kann, zeigt Yilan. Seit 1994 bemühen sich Sheng-Yuan Huang und Fieldoffice Architects in dieser Stadt an der Nordostküste Taiwans um die Revitalisierung des historischen Stadtkerns. Alles begann mit einer höchst unkonventionellen Fußgängerbrücke, die unter die Autobrücke über den Fluss gehängt wurde. Die Uferpromenade erhielt durch neue Gestaltungen Aufenthaltsqualität und nach und nach trieben die Architekten im ständigen Austausch mit Anwohnern und Behörden weitere grüne, fußgängerfreundliche Korridore durch die Stadt und schufen so innerstädtische Begegnungsräume. Auch die Küstenstadt Hsinchu litt, wie viele Kleinstädte Taiwans, an einer Vernachlässigung des öffentlichen Raums. Hier war es dem engagierten Bürgermeister zu verdanken, dass an allen Ecken und Enden innerstädtische Flächen vitalisiert wurde, indem man Straßen, Plätze und Verkehrsknotenpunkte durch Wege und Grünflächen fußgängerfreundlicher gestaltete und die Aufenthaltsqualität in Parks durch Bänke und idyllische Wegeführungen verbesserte. Ein Beispiel, das Kommunen in der westlichen Welt studieren sollten.

Andere kommunale Projekte zeigen, wie Architektur - von engagierten Laien oder Bürgerinitiativen angestoßen und umgesetzt - neu mit Leben gefüllt wird; in der Stadt wie auf dem Land. Oder wie Neubauten, selbst wenn hier mitunter das Top-Down-Prinzip zum Tragen kommt, auf bestehende Architektur reagieren und mit ihr interagieren können, ohne die Identität des Vorhandenen zu verraten. Andere Initiativen veranschaulichen, wie Architekturbüros in Taiwan ihre Autorenschaft im Entwurfsprozess neu definieren. Diese Architekten begreifen sich nicht nur als Entwerfer, sondern auch als Erhalter und Gestalter, wie das Beispiel eines ehemaligen Gewächshauses belegt, das in einen temporären Pavillon für kleine Geselligkeiten verwandelt wurde. Schließlich werden Projekte von Architekten vorgestellt, die in der Folge des Jiji-Erdbebens begannen, ihre Erfahrung mit dem Wiederaufbau von Häusern und Schulen in Katastrophengebieten mit anderen Ländern zu teilen.

Insgesamt macht die Ausstellung "Taiwan Acts!" klar, dass Architektur, die im Dialog mit der Gesellschaft entsteht, vielleicht etwas mehr Zeit kostet, dafür aber zu einer humanen, sozialen und nachhaltigen Stadtgestaltung führen kann, von der alle und nicht nur einzelne profitieren. Eine Lehre, die in Corona-Zeiten wichtiger denn je ist.

Taiwan Acts!, Architekturmuseum der TU München, Pinakothek der Moderne München. Bis 3. Oktober. Infos unter: www.architekturmuseum.de

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