Architektur:Original

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Der indische Architekt Balkrishna Doshi versöhnt Tradition und Zukunft. Eine Begegnung in Weil am Rhein, wo das Vitra-Design-Museum ihm eine Retrospektive widmet.

Von Laura Weissmüller

Als Balkrishna Doshi im vergangenen Jahr den Pritzker-Preis bekam, die wichtigste Auszeichnung in der Architektur, musste die Weltpresse erst einmal googeln. Wer bitte war dieser indische Architekt? Und was genau hat er gebaut, was der Jury so preiswürdig erschien? Obwohl Doshi damals schon über 60 Jahre Gebäude entworfen, Institute gegründet und Vorträge gehalten hatte, hatte ihn der Westen so gut wie gar nicht wahrgenommen.

Was sich auf die Schnelle über Doshi herausfinden ließ, waren vor allem seine Lehrmeister: Le Corbusier und Louis Kahn. Mehr als über Doshis Bauten schrieben Kritiker dann über diese Architekten und was der Inder wohl von ihnen gelernt habe. Auch wenn die zwei mit ihren monumentalen Bauten unbestritten Architekturgeschichte geschrieben haben, verriet die Konzentration auf sie doch mehr über den Blick des Westens auf Indien aus als über Balkrishna Doshi.

"Seit den Neunzigerjahren sind wir daran gewöhnt, Architekten Preise zu verleihen, die ikonische Gebäude irgendwohin gestellt haben. Doshis Werk ist sehr weit davon entfernt. Für ihn ist Architektur gut gelungen, wenn man sie nicht sieht", sagt Jolanthe Kugler. Sie hat für das Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein die Retrospektive über Balkrishna Doshi kuratiert. Es ist die erste Einzelausstellung seines Gesamtwerks außerhalb Asiens. "Doshi hat kein Interesse daran, als Star wahrgenommen zu werden."

Dabei ist er einer. Allein seine Erscheinung. Die über 90 Jahre strahlt er hinter einem schwarzen Brillengestell einfach weg und wirkt dabei wie ein fröhlicher Meditationsguru. Kramt er sein kleines, schwarzes Notizbuch hervor, um daraus vorzulesen, möchte man sich jeden seiner Gedanken sofort ins Gedächtnis einprägen, so allgemeingültig sind sie. Philosophen-Architekt wird Doshi auch genannt. Zeit, dass der Westen von ihm lernt.

Zum Beispiel wie man bezahlbaren Wohnraum schafft, der seine Bewohner so ernst nimmt, dass sie ihn nach ihren Bedürfnissen verändern können. Doshi will "wachsende Häuser", die so gebaut sind, dass eine Großfamilie darin glücklich wird. "Architektur ist dazu da, das Leben zu feiern." Und zwar für jeden. 1989 entwickelte Doshi Aranya, eine Wohnsiedlung für Slumbewohner.

Offen, grün, menschenfreundlich:Das Institute of Management in Bangalore. (Foto: Vitra Design Museum)

Der Architekt gab den Menschen einen Bausatz, der so simpel war, dass sie selbst oder mit lokalen Handwerkern ihr Haus errichten konnten. Nur die Toilette war fix, ansonsten durfte jede Familie auf ihrem 30 Quadratmeter großen Grundstück machen, was sie wollte, Räume hinzufügen, sie verändern, Zimmer aufs Dach satteln. Im Prinzip genau das, was der chilenische Architekt Alejandro Aravena sehr viel später in einem chilenischen Armenviertel gemacht hat, dadurch weltberühmt wurde und 2016 den Pritzker-Preis bekam.

Architektur als Selbstermächtigung und damit ganz im Sinne von Indiens erstem Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru, der die Menschen befähigen wollte, es selbst zu tun. Es ist ein sprechender Zufall, dass Doshi sein Architekturstudium 1947, im Jahr von Indiens Unabhängigkeit, begann. Sein ganzes Leben hat er versucht, das Land in seine eigene Moderne zu führen. Doshis Ansatz bis heute ist dabei, den Westen nicht zu kopieren, aber doch so offen zu sein, um von ihm zu lernen und daraus etwa spezifisch Indisches zu machen.

Wie das aussehen kann, sieht man in der Wohnsiedlung für die Life Insurance Corporation of India, die er 1973 entwarf. Außer einer Treppe ist auch hier so gut wie alles an den Mehrfamilienhäusern veränderbar. Wie nebenbei stellte der Entwurf jedoch auch die starre indische Hierarchie auf den Kopf. Schon allein, dass Arm und Reich hier unter einem Dach wohnen, ist erstaunlich, aber dass die Armen sogar über den Reichen wohnen, ihnen sozusagen auf dem Kopf herumtrampeln dürfen, wirkt wie eine bewusste Aufforderung, traditionelle Normen hinter sich zu lassen.

Klare Formen: Wohnsiedlung für die Life Insurance Corporation of India in Ahmedabad. (Foto: Vitra Design Museum)

"Balkrishna Doshi ging es immer darum, Hierarchien aufzubrechen", sagt Kugler. Egal ob es sich um eine Wohnsiedlung, Privathäuser oder eines der vielen Institutsgebäude handelte, die er über die Jahrzehnte entwarf, etwa das Indian Institute of Management in Bangalore. "Bildung soll Türen öffnen - nicht eine, sondern viele", ist ein Leitsatz von Doshi.

Auch die Natur hat ihren Platz. Bäume wachsen durch lichte Foyers, dichte Gärten verwandeln den Campus in Parks. So schön das aussieht, so sinnvoll ist es auch, gerade in der Hitze Indiens. Denn die Offenheit sorgt für kühlen Durchzug, die Grünpflanzen für Frische. Klimaanlagen werden überflüssig.

Dabei hat der Architekt nichts gegen moderne Technologien, er setzt sie genauso ein wie lokale Bautraditionen. Pragmatisch könnte man die Wahl seiner Mittel beschreiben, wenn das nicht so unsinnlich klingen würde. Sein Spiel mit Licht und Schatten verleiht den Gebäuden eine geradezu geistige Atmosphäre. Seine Formensprache ist geometrisch klar, aber dann so vielfältig zusammengesetzt, dass sie fast etwas organisch Gewachsenes hat.

Indiens Moderne, die sich in Doshis Entwürfen abzeichnet, hat etwas zutiefst Menschliches. Ihre Größe ist so wenig einschüchternd wie die Formensprache. Eine gebaute Einladung, sich wohlzufühlen und dabei eine Verbindung zum Ort zu entwickeln und zu den Menschen, die dort leben.

"Wozu mache ich Architektur? Wenn ich nicht fähig bin, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, welchen Zweck hat meine Arbeit dann?", schrieb Balkrishna Doshi in den Fünfzigerjahren. Auf die Frage nach der Verantwortung eines Architekten verwandelt sich der dauerlächelnde Guru heute in einen strengen Lehrmeister: "Wenn die Architekten sich ethischer verhalten würden, gäbe es weniger Konflikte in der Gesellschaft, denn dann hätten wir weniger Segregation." Bei Doshi gibt es kaum Türen, zumindest keine, die etwas verschließen. Alle Räume sind verbunden, die Trennung zur Außenwelt ist durchlässig.

Philosophen-Architekt: Balkrishna Doshi. (Foto: Iwan Baan)

Als seinen eigenen Guru bezeichnet Doshi Le Corbusier. Acht Monate arbeitete er als Praktikant in dessen Büro in Paris. Weil er kein Wort Französisch konnte, setzte sich Le Corbusier häufig zu ihm und sie zeichneten gemeinsam. "Ich fühlte ihn, und dabei entdeckte ich, dass das die richtige Art ist, Architektur und auch alles andere zu betrachten: mit Gefühl." Über Architektur haben sie auch später nie gesprochen, wenn, dann über die Menschen und wie sie sich in den Gebäuden bewegen.

"Indien hat Le Corbusier verändert", sagt Doshi heute. Für den Franzosen arbeitete er an Chandigarh mit, dieser ikonischen Planstadt, die nach der Unabhängigkeit Indiens der Welt vor Augen führen sollte, wie modern dieses Land doch sei, dann übernahm er die Projektleitung für Le Corbusier in Ahmedabad, Doshis Wohn- und Arbeitsort bis heute. Ständig habe Le Corbusier Diagramme angefertigt, Licht und Schatten analysiert, das Klima und die Ventilation. Und natürlich die indische Gesellschaft. "Seine ganze Architektur basierte auf diesen Erkenntnissen."

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass die Moderne die Verbindungen zum Ort und seinen Traditionen gekappt hat. Tatsächlich taten ihre wegweisenden Vertreter genau das Gegenteil: Sie überführten die alten Ideen in die Zukunft. Bloß die denkfaulen Nachfolger zerschnitten die Wurzeln und schufen diesen stumpfen architektonischen Einheitsbrei, in dem heute so viele Menschen leben. Balkrishna Doshi zeigt dagegen, wie eine Welt ohne Berührungsängste aussehen kann.

Balkrishna Doshi. Architektur für den Menschen, Vitra-Design-Museum, Weil am Rhein. Bis 8. September. Infos unter www.design-museum.de

© SZ vom 27.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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