Architektur in der Türkei:Atatürks Traum

Turkish soldiers stand at attention during a ceremony at the mausoleum of Mustafa Kemal Ataturk in Ankara

Das Mausoleum des Republikgründers Kemal Atatürk thront tempelgleich über der Stadt.

(Foto: REUTERS)

Deutsche Architekten halfen einst dabei, aus Ankara eine moderne Hauptstadt zu machen. Heute, in der Ära Erdoğan, muss alles noch eine Spur gewaltiger sein.

Von Christiane Schlötzer

Der deutsche Bildhauer Rudolf Belling war ein höchst facettenreicher Künstler. "Ob gegenständlich oder gegenstandslos, ich erlaube mir alles, was mir nötig erscheint", schrieb er 1922.

Sein Werk lässt sich gerade in einer umfangreichen Retrospektive in Berlin in der "Neuen Galerie" im Hamburger Bahnhof (bis 17. September) wiederentdecken.

Belling starb vor 45 Jahren in Krailling bei München. Dass er fast 30 Jahre in der Türkei lebte, als Emigrant dort überlebte und viele seiner Werke schuf, scheint angesichts der freizügigen Formen seiner Skulpturen nicht so recht zu passen. Vor allem, wenn man sich die Prüderie der heutigen Erdoğan-Türkei, die auch den offiziellen Kulturbetrieb erfasst hat, vor Augen hält.

Belling gehört zu einer ganzen Schar deutscher Akademiker, die nach 1933 keinen anderen Ausweg mehr wussten, als in der Türkei eine neue Heimat zu suchen, um Nazi-Deutschland zu entkommen.

Die Türkei war nicht unbedingt erste Wahl, da unbekannt und, wie die meisten meinten, doch eher Orient, ja Dritte Welt. Wer konnte, emigrierte in die USA, oder auch nach Südamerika. Aber in Ankara saß ein Mann, der Bedarf an Wissenschaftlern hatte, die ihm seine neue Republik aufbauen halfen.

Kemal Atatürk, der Gründe der modernen Türkei, lockte Akademiker mit Arbeitsverträgen und Aufenthaltsrecht. Es kamen Juristen, Mediziner, Komponisten. Der türkische Staatschef aber interessierte sich vor allem für die Baumeister, Bildhauer und Architekten.

Aus dem anatolischen Provinznest wurde eine richtige Hauptstadt

Mit ihnen wollte er seine neue Türkei errichten, Stein für Stein, vom Fundament bis zum Dachfirst, mit Stadtplänen, die von deutschen Planern gezeichnet waren. Die ersten von ihnen hatte er sogar schon unmittelbar nach der Staatsgründung 1923 nach Ankara eingeladen, um mit ihnen aus dem anatolischen Provinznest eine richtige Hauptstadt zu machen.

Ankara sollte im Kontrast zur dekadenten osmanischen Kapitale Istanbul mit ihren filigranen Palästen die neuen republikanischen Ideale verkörpern: ein Vorbild an Fortschrittlichkeit sein, "als universelles Modell von Stadtkultur, Gesellschaft und Lebensführung", wie Hakan Dağıstanlı in seinem "Architekturführer Ankara" (DOM publishers. Berlin, 2016) schreibt, einem aufschlussreichen Handbuch zur Baugeschichte der Hauptstadt, von der Republikgründung bis zur Gegenwart.

At Least 90 Killed in Attempted Military Coup in Turkey

Erdoğans "Weißer Palast".

(Foto: Erhan Ortac/Getty Images)

Touristen verirrten sich auch schon früher eher selten nach Ankara, und gegenwärtig sind es noch viel weniger, eigentlich schade, könnten sie doch gerade hier erfahren, wie sich dieses Land einst selbst sah, und wie es gesehen werden wollte - und was daraus geworden ist. Ankara wurde entworfen als wohlproportionierter Teil Europas, mit urbanen Zentren, öffentlichen Parks und Plätzen, klarer baulicher Ordnung, samt Traufhöhen.

Zwischen 1924 und 1950 wirkten in der Türkei mehr als 30 Architekten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz - und später dann auch viele ihrer Schüler. Sie erfüllten zusammen mit herausragenden türkischen Kollegen Atatürks Traum von einer optimistischen, an neuer Sachlichkeit orientierten Moderne.

Man kann viele dieser Zeugnisse eines schwungvollen Aufbruchs heute noch sehen: das Parlamentsgebäude, das der Österreicher Clemens Holzmeister entwarf, Ministerialbauten aus der Hand des Wieners Ernst Egli, die imposante Philologische Fakultät von Bruno Taut, der zuvor im Berlin der Zwanzigerjahren Spektakuläres im Siedlungsbau schuf; oder das Opernhaus von Şevki Balmumcu und Paul Bonatz, dem Architekten des Stuttgarter Hauptbahnhofs.

Bonatz wirkte einige Jahre im Dritten Reich, bevor er sich mit Albert Speer anlegte, 1943 ging Bonatz in die Türkei. Schulen, Krankenhäuser, Banken, Wohnsiedlungen, Theater - es gab viel zu tun, die Hauptstadt wuchs und wuchs.

Die Radikalität des Wandels in der Türkei zeigt sich über die Jahrzehnte auch in der Architektur, im groben Ganzen wie im Detail. Und das gilt bis heute. Recep Tayyip Erdoğan ließ seinen monströsem Kitsch-Palast, juristischen Widerstand und Bauverbote souverän ignorierend, ausgerechnet in ein Waldstück setzten, das Atatürk einst als öffentliches Naherholungsgebiet ausgesucht hatte.

Der Palast des heutigen Präsidenten orientiert sich stilistisch an vorrepublikanischen Vorbildern, der Eintausend-Zimmer-Komplex aber lässt diese mit auftrumpfender Geste auch weit hinter sich: Hier kragen die Dächer zu weit vor, was sie wie Pilzhüte aussehen lässt.

Türen, Fenster - alles zu üppig, zu machtheischend. Erdoğans Serail wirkt wie das viel zu große Gehäuse eines einsamen Alleinherrschers, der weit draußen vor der Stadt hinter einem Wall von Zäunen Schutz sucht.

Allüberall entstehen neue Wolkenkratzer, Flughäfen, Bahnhöfe

Das urbane Ankara, an dessen Bauten einst europäischen Architekten maßgeblich mitwirkten, ist kilometerweit entfernt von diesem Neu-Versailles alla turca. Nach den prägenden Dreißiger- und Vierzigerjahren haben Ankara und die gesamte Türkei viele Entwicklungssprünge erlebt, die alle in der Hauptstadt Spuren hinterlassen haben.

Dazu gehört der Vorrang für den Autoverkehr, für den man erst immer breitere Schneisen schlug und heute am liebsten Tunnel baut; der Betonbrutalismus, gefolgt von der Liebe zum Glasturm. Dazwischen gibt es immer wieder architektonische Glanzlichter, auch postmoderne, und als Kontrast dazu das Pittoreske.

Dort wo Sorgfalt bei der Renovierung der Altstadt unterhalb der Zitadelle von Ankara angewandt wurde, wird Historie klug bewahrt, anderes aber wirkt arg verkitscht. Restaurants füllen nun viele der alten Konaks.

Attempted Military Coup In Turkey

Das Parlamentsgebäude.

(Foto: Chris McGrath/Getty Images)

Wo das Versammlungsrecht mit Füßen getreten wird, sind auch öffentliche Plätze als Bühnen der Demokratie in ihrer Existenz bedroht. In Istanbul wurde der Taksim-Platz nach den Gezi-Protesten so platt und glatt betoniert, dass er alles Einladende verlor. Wo Republikgeschichte immer weniger gilt, wird auch das wertvolle Erbe aus der Anfangszeit bald vernachlässigt werden. In Ankara kämpfen Architekten schon gegen die Abrissbirne.

Gebaut wird in der Türkei heute in schwindelerregendem Tempo und allüberall, Wolkenkratzer, Flughäfen, Bahnhöfe. Ankaras neuer Bahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge, eine riesige Glasrampe, glitzert wie ein auf Erden festgezurrtes Raumschiff.

Jüngst hat Parlamentspräsident Ismail Kahraman auch den Bau eines neuen Parlamentsgebäudes vorgeschlagen, weil der historische Holzmeister-Bau "heutigen Anforderungen nicht mehr entspricht". Nach der nächsten Parlamentswahl 2019 soll es 600 statt 550 Abgeordnete geben. So steht es in der jüngst in einem Referendum knapp gebilligten neuen Verfassung, die Erdoğan fast unbeschränkte Macht geben wird, wenn er 2019 wieder Präsident wird.

Atatürks Vision von einer urbanen Türkei ging - unter Erdoğan - auf

Über das jetzige Parlament schreibt Hakan Dağıstanlı in seinem Buch: "Mit einem Areal von 450 000 Quadratmetern und einer Grundfläche von 20 000 Quadratmetern zählt das Gebäude zu den größten Parlamentskomplexen weltweit." Als "Stadtkrone" über einer leichten Anhöhe liegend bilde es den Abschluss der "hierarchisch angelegten Ministerialbauten" des Regierungsviertels.

Noch viel höher liegt das Atatürk-Mausoleum, die monumentale Grabstätte des Republikgründers, tempelgleich thront sie über der Stadt. Der Findungskommission für den Bauplatz gehörte nach Atatürks Tod 1938 auch Rudolf Belling an, der deutsche Bildhauer.

Und 1950, als man überlegte, wie die Reliefs an diesem Erinnerungsort gestaltet werden sollten, durfte als einziger Ausländer wieder Belling mitreden, wie die Münchner Kunstgeschichtsprofessorin Burcu Dogramaci in einer grundlegenden Studie zum Wirken der deutschsprachigen Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei schon 2008 darlegte. Sie zitiert auch das Atatürk-Wort: "Eine Nation ohne Künste ist so, als sei ihr die Hauptschlagader abgetrennt worden."

Atatürks Vision von einer Türkei, die urban ist, ging - unter Erdoğan - auf. Drei Viertel der 80 Millionen Türken leben heute in Städten, das entspricht dem EU-Durchschnitt. Der Wohnungsbau boomt, vor allem in der urbanen Peripherie.

An den Rändern der Metropolen stampft die staatliche Baugesellschaft Toki eine Trabantensiedlung nach der anderen aus Steppe und Brache, Shopping Malls und Stadtautobahnanschluss inclusive. Von der idealen Stadt, nach Plan und mit menschlichem Maß, sind diese gigantischen Schlafquartiere himmelweit entfernt. Sie sind Stadt ohne Stadt zu sein. Auch damit orientiert sich die Türkei durchaus an internationalen Vorbildern.

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