Nachverdichtung:Was macht eine Stadt zur Stadt?

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Der Entwurf des Büros Herzog & de Meuron für das Viertel rund um die Münchner Paketposthalle sieht eine Belebung der Erdgeschosszone vor, aber keine Autos. (Foto: Herzog de Meuron)

München hat Jahre stadträumlicher Stagnation hinter sich. Mit dem neuen Entwurf von Herzog & de Meuron könnte das anders werden - und die Stadt zum europäischen Sehnsuchtsort.

Von Gerhard Matzig

Womöglich tut sich die "Dichte" als physikalische Größe im Land der Dichter (und Denker) deshalb so schwer, weil ihr ein "r" zur Poesie fehlt. Außerdem hat mancher die Qual in Erinnerung, die sich in der Tragwerkslehre im Studium der Architektur einstellt, sobald man mit Aufgaben wie dieser konfrontiert wird: Bestimmen Sie, wann das Flachdach unter der Schneelast einstürzt. Das Dach ist zwölf Meter lang und fünf Meter breit, dazu maximal für eine Belastung von 282 Kilonewton ausgelegt. Um acht Uhr morgens liegt eine zwei Meter hohe Schneedecke auf dem Dach, jede Stunde kommen fünf Zentimeter Schnee dazu.

Die in jeder Weise rettende Antwort lautet: 15 Uhr.

Trotzdem ist es - wie selten zuvor - geboten, sich mit einer ganz bestimmten Form der Dichte auseinanderzusetzen, denn die Dichte, die auch im längst epidemisch gewordenen Begriff der städtisch gemeinten "Nachverdichtung" lauert, besitzt eine enorme gesellschaftliche Sprengkraft. Der soeben in München vorgestellte Masterplan der Basler Architekten Herzog & de Meuron zur Reaktivierung, eigentlich aber Neuerfindung des Areals rund um die Paketposthalle im Westen der Stadt ist vor allem auch ein Beitrag zur Frage nach der richtigen und so auch jenseits der Tragwerkslehre als angenehm, nämlich städtisch positiv empfundenen Dichte.

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Zwei 155 Meter hohe Türme sollen an der alten Paketposthalle entstehen. Die Bauten würden den Westen der Stadt überragen - und dürften die Diskussion um eine maximale Gebäudehöhe befeuern.

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Die Debatte über die Dichte in Städten wie München, die einerseits keine eindeutigen, also per se hochdichten Metropolen sind, die andererseits aber das Großstädtische ihrer Bevölkerungszahlen abgesehen von den Kerngebieten selten auch räumlich ahnen lassen, ist die entscheidende Städtebau-Frage in einer Ära der Urbanität. Doch das komplexe Verhältnis zwischen Dichte (als simple Anzahl der Menschen) und Urbanität (als so physisch wie geistig und seelisch, ja sinnlich erlebbarer, daher auch erfreulich oder beängstigend wirksamer Raum der Stadt) ist umstritten und letztlich weniger mathematisch als psychologisch und baukulturell zu bestimmen.

Jacques Herzog und Pierre de Meuron haben für ein neues Münchner Stadtviertel auf einem Areal, wo sich bislang eine uneindeutige, gewerbeähnliche und fast triste, ja antistädtische Zone befindet, einige Maßnahmen vorgeschlagen. In ihrer Zusammenschau zielen diese vor allem auf eine überlegte und auch überlegene Form von Urbanität und Dichte. Darin liegt die eigentliche Brisanz ihres Masterplans, und nicht im vorgeblichen Tabubruch, der darin liegen könnte, in München, anderthalb Jahrzehnte nach einem entsprechenden Bürgerentscheid gegen als zu hoch empfundene Bauten, zwei je 155 Meter hohe Türme in spürbarer Nähe zur Paketposthalle vorzuschlagen. Auch wenn man zugeben muss, dass die anmutig formulierten, angemessen hohen Bauten logischerweise ihren Anteil an der Verdichtung besitzen.

Die eigentliche Meisterschaft im Masterplan, den man kühn nennen darf, der aber vor allem raumintelligent ist, zielt nicht allein auf vertikale Wahrzeichen, sondern auf eine Neuinterpretation des urbanen Raumes. Würde man den Masterplan realisieren, was der Stadt München zu wünschen ist nach Jahren stadträumlicher Stagnation, die sich abseits der Innenstadt häufig als unentschiedene, identitätslose Belanglosigkeit bemerkbar macht, so erhielte München zwischen dem Naturbereich des Hirschgartens, der Bahninfrastruktur und einem sich zur Stadtmitte hin erst allmählich bemerkbar machenden Stadtgefühl der westlichen Viertel eine Art Herzschrittmacher. Es wäre ein Urbanisierungsschub, wie man ihn sich für München seit langer Zeit wünscht.

"Urbanität" ist ein schillernder Begriff. Einerseits ist es ein Sehnsuchtstopos der städtisch definierten "creative class" (Richard Florida), doch wird dieser zunehmend von einem Hipster-Marketing begleitet, das den Begriff, der sich eigentlich vom lateinischen "urbs" ableitet (Burg, Stadt, Rom), zur Konsumhaltung degradiert. Ein Beispiel unter vielen: "Mit dem legeren und robusten Urban Lifestyle Slip-On von Ecco Sport kannst du die Straßen der Stadt stilvoll genießen." Der Urban Lifestyle verdankt sich in diesem Fall einem Paar Schuhe. Mittlerweile gibt es von der Unterhose bis zum Bügeleisen kaum mehr ein Produkt, das nicht auch über den strapazierten Begriff einer vorgeblichen Urbanität zu vermarkten wäre. Was das eine Produkt urbaner als ein anderes erscheinen lässt, bleibt jenseits der Rhetorik ein Geschäftsgeheimnis.

Paradoxerweise hat die Dichte, die im Reich der Stadtgesellschaft mit wahrer Urbanität notwendigerweise einhergeht, einen eher schlechten Ruf. Und dies nicht ganz zu Unrecht - wie etwa der Berliner Psychiater Mazda Adli in seinem Buch "Stress and the City: Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind" feststellt. Bemerkenswert ist dabei allerdings das "trotzdem". Klar ist: Räumliche Dichte, die sich als zu hoch (und falsch platziert), daher als stressverursachend erweist, kann die Gesundheit schädigen. Das reicht von der Herz-Kreislauf-Symptomatik bis zur Schizophrenie.

Einst hieß es "Stadtluft macht frei". Sie kann aber unter bestimmten räumlichen Umständen auch krank machen. Daher muss man in Stadtplanung und Architektur die infolge der Nachverdichtung als Konsequenz des Wohnraummangels aufkommende Sorge in der Bevölkerung sehr ernst nehmen. Gute Dichte ist zum Glück planbar.

Europäische Sehnsuchtsorte sind die Städte Wien, Barcelona, Paris - viel "dichter" bebaut als die Stadt München

Was den Masterplan für München angeht: Tatsächlich dürfte die geplante GFZ, die Geschossflächenzahl, eine höhere sein als in einigen Nachbarschaften. Die Geschossflächenzahl definiert, wie viel nutzbarer Raum (also letztlich Stockwerke) in Relation zur Grundstücksfläche entstehen darf. An einer möglichst hohen GFZ hat also auch der Bauherr ein Interesse: Je höher die GFZ, desto höher die Rendite. Interessant dabei ist: Die GFZ von Siedlungsgebieten, die gemeinhin als hochdicht und somit problematisch wahrgenommen werden, etwa Neuperlach in München oder Marzahn in Berlin, ist verblüffenderweise viel niedriger als in traditionellen Quartieren (wie Berlin-Mitte oder Schwabing in München), die aber nicht als "problematisch" oder "stressig" begriffen werden - sondern als "urban" und "lebendig".

Europäische Sehnsuchtsorte, die Tourismusbranche weiß das, sind beispielsweise die Städte Wien, Barcelona, Paris oder auch Venedig. Das sind allesamt Städte, die im Durchschnitt ihrer natürlich unterschiedlich dichten Quartiere viel "dichter" bebaut sind als die Stadt München.

Das von Herzog und de Meuron vorgeschlagene Stadtviertel wäre allein durch die Belebung der Erdgeschosszone, durch die Autofreiheit, das Näherrücken der sechsgeschossigen Blöcke (die zum Ausgleich mit viel Grün innen ausgestattet sind) und durch die Vielgestaltigkeit des Raum-Mix-Angebotes in genau diesem Sinne eine städtisch-urbane Bereicherung für München.

Die Hochhäuser, die mit dieser Form städtischer Dichte auf logische Weise verknüpft sind, wären zwar weithin sichtbare Zeichen des neuen Stadtviertels. Aber das eigentliche Novum des Masterplans liegt in seinem Begriff einer urbanen Dichte, der ebenso fortschrittlich wie traditionsgebunden wirksam wäre.

Die Stadt München braucht in diesem Sinn also nicht mehr Quantitäten - aber sehr wohl mehr Qualitäten. Der Masterplan ist ein Plädoyer nicht nur für mehr Stockwerke, sondern vor allem für eine bessere räumliche Qualität. Er macht die Stadt in der Stadt erst zur Stadt.

© SZ vom 25.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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