Süddeutsche Zeitung

Architektur:Gemeinschaft oder Ghetto

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Der Wohnungsmarkt explodiert, Städte und Gemeinden bauen in schwindelerregenden Dimensionen. Nur eines fehlt: Mut zum Experiment

Von Laura Weissmüller

Die vielen Nullen können schwindelig machen. Ausnahmsweise hängen sie nicht an den neuen Flüchtlingszahlen, sondern an den Ziffern, die anzeigen, wie viele Wohnungen Städte und Kommunen in den nächsten Monaten und Jahren bauen wollen: Hamburg will bis Ende 2016 im Schnellverfahren pro Bezirk 800 neue Wohneinheiten errichten, macht für die sieben Bezirke 5600 Unterkünfte.

Der Berliner Senat hat beschlossen, Wohnungen für 30 000 Menschen neu zu bauen, in Leichtbauweise, damit die Bleiben bis Ende 2016 fertig sind. Außerdem will die Stadt, auch dank eines Neubaufonds von jährlich 192 Millionen Euro, mit ihren Wohnungsbaugesellschaften in drei Jahren mindestens 10 000 neue Wohnungen schaffen. Auch München unterstützt seine städtischen Gesellschaften mit zusätzlich 250 Millionen Euro für neuen Wohnraum. Bayern hat gerade ein milliardenschweres Programm aufgelegt, mit dem 28 000 neue Apartments entstehen sollen.

Der Aktionismus ist angebracht. Nicht erst seitdem Hunderttausende Menschen in unser Land fliehen, fehlt es an bezahlbarem Wohnraum. In kaum einem Land geben die Menschen so viel Geld für Miete aus wie in Deutschland. Doch was es genauso dringend bräuchte wie neuen Wohnraum, ist Mut.

Denn eine andere Null macht nicht nur schwindlig, sondern auch Angst: Es gibt null Bereitschaft, Neues auszuprobieren. Der Vorschlag etwa, unterschiedliche Wohnungsgrößen so ineinander zu verzahnen, dass ein Haus verschiedenen Lebensformen ein Zuhause bietet, ja sogar flexibel auf seine Bewohner reagieren kann, wird von den meisten Wohnungsbaugesellschaften stoisch ignoriert. Als gäbe es keine Singles, keine Alleinerziehenden, keine Patchworkfamilien und auch keine Senioren, die in Alten-WGs leben wollen. Auch von der Idee, das Erdgeschoss nicht immer mit Mülltonnen, Fahrradständern, Garagen oder Wohnungstüren zu verbarrikadieren, sondern mit Gemeinschaftsräumen, Cafés oder Ausstellungsflächen nach außen zu öffnen, wollen sie nichts wissen, klagen Architekten. "Es geht momentan nur um Masse", sagt der Berliner Architekt Arno Brandlhuber.

Allerdings dürften sich die derzeitigen und zukünftigen Deutschen von dem Idealbild Vater-Mutter-maximal-zwei-Kinder in Zukunft noch viel weiter entfernen, als sie heute schon sind. Die Wohnungsbaugesellschaften stapeln gerade tausendfach einen Lebensentwurf von gestern aufeinander. Das haben sie schon in den vergangenen Jahren gemacht, aber jetzt wird es brisant: Wollen wir wirklich die Wohnghettos von morgen oder lieber eine sozialere Stadt? Denn die Chance dafür ist da, und sie ist so groß wie nie zuvor.

Schallschutz, Wärmeschutz - die Baustandards sind ein Albtraum. Zeit, sie zu senken!

Die extreme Nachfrage stellt Baustandards infrage. Das Bundesbauministerium prüft gerade, ob man vorrübergehend Auflagen reduzieren kann, damit Unterkünfte für Flüchtlinge schneller entstehen. Die Frage, welche Standards sinnvoll sind und welche nicht, ist wichtig. Die Konzentration auf die Flüchtlinge nicht. Ein Dickicht aus Gesetzen und Normen hat das Bauen immer teurer werden lassen. Schallschutz, Wärmeschutz, all diese Auflagen sind in Maßen sinnvoll, aber nicht in dieser Dichte.

Wer das nicht glaubt: Wie viele Menschen sind unglücklich, weil sie in einem Altbau aufgewachsen sind und nicht in einem topisolierten und gedämmten Neubau? Eben. Was sich im Bestand bewährt hat, sollte auch für die Zukunft genügen.

Von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Flüchtlingskrise gibt es außerdem den Vorschlag, Flüchtlinge in Gewerbegebiete einzuquartieren. Nicht nur die, möchte man rufen! Das Baugesetz schreibt die strikte Funktionstrennung zwischen Wohnen und Arbeiten vor, aber dies führt dazu, dass unsere Städte immer langweiliger werden. Dabei entspricht das Arbeiten von heute längst nicht mehr dem Arbeiten von gestern, als es ohrenbetäubend und oft gefährlich war. Die heute unsinnige Teilung hat sich bis ins Baugewerbe fortgesetzt: Die einen errichten nur Wohnungen, die anderen nur Büros. Dabei brauchen wir beides, und zwar in einem Haus, und dazu noch Gemeinschaftsräume, Flächen für Kleinstgewerbe und Restaurants. Nur ein Hybrid, der all das vereint, wird der Gesellschaft von heute und erst recht der von morgen gerecht.

Zudem verringert die immense Zahl an Neubauten das Risiko für Experimente. Seit der Wende wurden in Deutschland nicht mehr so viele Wohnungen gebaut. Da fällt ein Wohnungsbau, der Fragen nach der Zukunft stellt, nicht ins Gewicht. Keiner fordert, dass alle in einem Wohnexperiment leben müssen. Die klassische Ein- bis Vier-Zimmerwohnung wird es natürlich weiterhin geben. Nur böten, sagen wir, fünf Prozent Experiment bei 95 Prozent Masse die Möglichkeit, unsere Gegenwart endlich auch in puncto Wohnen abzuklopfen. Denn warum soll sich alles ändern, nur unser Wohnen nicht? Wir arbeiten flexibler (mehr Home Office, mehr Umzug), wir lieben flexibler (mehr Singles, mehr Scheidungen), selbst älter werden wir flexibler (mehr Senioren-WGs, mehr individuelle Pflegekonzepte). Nur unsere Häuser spiegeln das nicht wider. Warum? Weil sie das nicht dürfen, denn können tun sie es schon längst.

Wer das nicht glaubt, kann sich von drei Häusern in Berlin überzeugen lassen. Seit einem Jahr wohnen im Spreefeld 100 Erwachsene und 30 Kinder. Wobei das Verb wohnen etwas armselig klingt angesichts dessen, was die Bewohner dort alles tun können. Gemeinsam kochen zum Beispiel. Oder arbeiten, Möbel schreinern, den Blick von der Dachterrasse genießen oder das Bootshaus ansteuern und auf der Spree schippern. Klingt elitär? Mit durchschnittlich 2100 Euro pro Quadratmeter war das Projekt (Architekturbüros: Arge Carpaneto, BARarchitekten, Die Zusammenarbeiter und fatkoehl) etwa halb so teuer, wie die sich gerade im Bau befindlichen Wohnungen in Berlin im Durchschnitt kosten. Ein Viertel der Bewohner hatte nicht das Geld, das man braucht, um an Baugruppen teilzunehmen. Deswegen sind diese meist eine ziemlich elitäre Angelegenheit. Im Spreefeld aber konnten sie ihre Anteile über KfW-Kredite finanzieren, weil die Genossenschaft das Grundstück als Sicherheit zur Verfügung gestellt hat. Anders als bei vielen neuen Wohnquartieren, die um sich herum eine Sperrzone ziehen, ist hier das komplette Gelände öffentlich.

Spreefeld ist eines von den Projekten, die das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt gerade vorstellt. Alle Häuser versuchen dort auf ihre Weise eine Gemeinschaft zu fördern. Das Haus in der Berliner Oderberger Straße von BARarchitekten zum Beispiel. Ein Gebäude wie ein Begegnungsgenerator, mit Kantine, Miniausstellungsfläche und Geschäft im Sockelgeschoss. Die Wohnungen sind so flexibel wie die Bewohner darin. Die Fassade des Hauses ist eher unscheinbar. Das ist typisch für Gebäude, die die Gemeinschaft großschreiben. Was zählt, ist das Innenleben. Denn ein Haus hört eben nicht mit der Wohnungstür auf. Es entscheidet, ob Arm und Reich, Alt und Jung, Singles und Familien hier Nachbarn sind. Es gibt aber auch vor, welches Stück Stadt außen herum entsteht. Es ist kein Gottesgesetz, dass Neubausiedlungen öde sein müssen. Häuser, Plätze, Straßen können Menschen zusammenbringen. Das ist ja gerade das Faszinierende an der Architektur. Diese Fähigkeit wird umso wichtiger, je vielfältiger unsere Gesellschaft wird. Das, was jetzt gebaut wird, prägt unsere Städte und die Menschen darin für Jahrzehnte. Deutsche Banlieues kann keiner wollen.

Und die Politik könnte es verhindern. Wenn sie den öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften jetzt nicht vorschreibt, zu experimentieren, dann werden sie das auch nicht machen. Weil sie es - anders als die Architekten in der Frankfurter Ausstellung - nicht können. Weil sie es noch nie probiert haben. Gewohnheiten sind der Feind eines jeden Experiments. Weil sie den Aufwand scheuen, den Gemeinschaftsflächen und öffentliche Räume in Häusern bedeuten, denn jemand muss sich darum kümmern. Aber auch, weil die meisten Wohnungsbaugesellschaften gar nicht die finanzielle Freiheit haben, etwas auszuprobieren, was noch nicht genormt und standardisiert ist.

Doch unsere Gesellschaft ist nicht genormt. Wir brauchen Häuser, die dafür eingerichtet sind. Wenn die Architektur darf, dann kann sie das schaffen. Beispiele aus der Vergangenheit gibt es: das Rote Wien, das Neue Frankfurt. Jetzt ist es Zeit für ein neues Kapitel europäischer Wohngeschichte.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2015
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