Architektur:Erfahrungsarmut und Wagenburg

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Elmar Kossel, Brigitte Sölch (Hrsg.): Platz-Architekturen. Kontinuität und Wandel öffentlicher Stadträume vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Deutscher Kunstverlag, München 2018. 382 Seiten, 48 Euro. (Foto: verlag)

Auf den öffentlichen Plätzen vergewissern sich Gesellschaften ihrer selbst: Kunsthistoriker untersuchen "Platz-Architekturen" zwischen Kommerz und Protest.

Von Andrea Gnam

"Die Stadt gehört der Vergangenheit an. Wir können das Theater jetzt verlassen." Das Statement von Rem Koolhaas bezog sich 1996 auf ein gewandeltes Verständnis von Stadt, das sich vor allem am Konsum orientiert. Das urbane Geschehen verlagerte sich zunehmend in privatrechtlich organisierte, künstliche Innenräume. Die Forschergruppe "Piazza e monumento" am Kunsthistorischen Institut in Florenz und mit ihr die Autorinnen und Autoren des von ihr initiierten Tagungsbandes "Platz-Architekturen" argumentieren rund zwei Jahrzehnte später hingegen dezidiert historisch. Vergangenheit und Gegenwart der Stadt sollen fruchtbar aufeinander bezogen werden.

Der städtische Platz, heißt es in einem der Essays, ermöglichte im Mittelalter eine Reihe von unterschiedlichen, öffentlichen Nutzungen. Er war Marktplatz und Richtstätte, Wasserplatz und Eichstätte, diente dem Umschlag von Nachrichten und Klatsch, aber auch ambulanten Ärzten, Barbieren und Schaustellern als Ort ihres Wirkens. Demgegenüber sind moderne Plätze von Erfahrungsarmut geprägt. Die insgesamt neunzehn Aufsätze behandeln Plätze in europäischen Städten wie Rom und Florenz, den Times Square, aber auch Vorschläge zur Platzgestaltung in Petrograd während der Revolutionsfeiern 1918, oder aktuellere Schauplätze politischer Proteste.

Der Band ist erst fünf Jahre nach der Tagung erschienen. Das schlägt vor allem bei damals ganz aktuellen Einschätzungen zu Buche. Durch soziale Medien initiierte und aufrechterhaltene Protestbewegungen, aber auch die Veränderungen, die durch Onlinehandel und Spekulation hervorgerufen wurden, haben heute eine andere Brisanz und Dynamik als noch vor fünf Jahren. Die Beiträge beschäftigen sich mit unterschiedlichen Städten und Zeiten. Ausgangspunkt der Debatte bilden Überlegungen zur Gestalt der Plätze, die im 19. Jahrhundert mit Camillo Sittes Publikation zum "Städtebau nach seinen künstlerischen Gesichtspunkten" einsetzten, noch ehe um die Jahrhundertwende Städtebau zur eigenen Profession avancierte.

Plätze spielen eine herausragende Rolle für Urbanisten: Sie sind nicht einfach frei gebliebene Fläche, sondern ein von Architektur gefasstes, gestaltetes Ensemble. Sehr wichtig, so geht aus mehreren Essays hervor, ist die Art und Weise, wie der Platz in den Blick gerät. Und der angenommene Betrachterstandpunkt wiederum spiegelt den historischen Wandel wider. Stellt man sich wie Camillo Sitte einen statischen Betrachter vor, der nach Maßgaben der Zentralperspektive - Sitte sprach hier sogar wie einst die Renaissancetheoretiker von einer "Sehpyramide" - auf den Platz schaut? Oder geht man von einem Betrachter aus, der sich frei über den Platz bewegt?

Der statische Betrachter weiß einen geschlossenen Platz mit klaren Blickachsen zu schätzen, der mobil gewordene Betrachter im zwanzigsten Jahrhundert bewegt sich, wenn er einen modern gestalteten Platz durchquert, auf einem Areal, das sich nach allen Seiten hin öffnet.

Sehr bald indes ist der mobile Betrachter Autofahrer geworden. Die Architektur des Platzes zieht allenfalls als Bildprogramm an Fenster und Rückspiegel vorbei. Die autogerecht geplante Stadt wich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dann wieder der am Konsum orientierten Stadt der Fußgängerzonen und später der historisch rekonstruierten Stadt. Das "geschönte Redesign des Platzes", sei, wie Wolfgang Pehnt schreibt, auch als Reaktion auf den Flächenverbrauch für Großlagerhallen, Frachtflughäfen und "Logistiklandschaften" zu verstehen. Plätze arbeiten nicht nur mit realen Architekturelementen, sondern auch mit Vorstellungsbildern und einer Symbolsprache.

Reiterstandbilder und Triumphbögen symbolisierten auf traditionellen Plätzen den Einzug des Herrschers. Dies wird besonders deutlich in Essays von Elmar Kossel und Dario Donetti zum faschistischen Städtebau unter Mussolini in Italien, der mit dem Bau des Viertels EUR anlässlich der geplanten Weltausstellung eine politische Beziehung zur Architektur des Römischen Reiches schaffen wollte. Zum Bildprogramm der Plätze gehörten Sichtachsen, Standbilder, Mosaike und tendenziöse Inschriften. Einige Architekten entwarfen auch die Szenografe für Opern, wie Archivmaterial zeigt.

Im faschistischen Italien wurden aber auch Plätze für Massenspektakel und propagandistische Skulpturenprogramme zum Teil durch massive Eingriffe in die historischen Altstädte neu geschaffen. Dies geschah auch in den außereuropäischen Kolonien. Ein Aufsatz von Katja Piesker zeigt mit Blick auf das hochosmanische Istanbul, wie in nichteuropäischen Kulturen eine (limitierte) Öffentlichkeit jenseits der Plätze gestaltet wurde: auf Basaren oder innerhalb von religiösen Stiftungskomplexen, mit Hippodromen und militärischen Aufmarschflächen.

Der Band schließt mit einem Aufsatz von Carolin Höfler zur Symbolik der Platzbesetzung bis zum Jahr 2012, bei Protesten, die bereits durch soziale Netzwerke initiiert wurden. Gern bedient man sich hier in Form von Camps alter Symbole: Der Kreis der Wagenburg oder die Ordnung der Kleinstadt kehren als "naives Ideal" - im Kleinen, symbolisch und temporär - auf Platz und Feld der Auseinandersetzung zurück.

© SZ vom 02.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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