Süddeutsche Zeitung

Architektur:Ein Turm fürs Getreide

In Zürich ist ein 118 Meter hohes Kornhaus entstanden. Obwohl noch gar nicht fertig, ist es bereits das "bestgehasste" Bauwerk der Stadt.

Von Charlotte Theile

Raimund Eigenmann ist gelernter Müller. Er weiß, dass der Geruch, der einem gerade in die Nase steigt, vom Hafer kommt, auch die weiße Labor-Schürze trägt er nicht zum Spaß. Und natürlich hat er sich früher immer gefragt, warum um alles in der Welt "die Chefs" immer noch höhere Türme bauen müssen. Unnötig fand er das damals, auch ein bisschen lächerlich. Jetzt aber deutet er auf die letzte, ziemlich hohe Stufe und sagt: "Bitteschön. Es kann sein, dass Ihnen schlecht wird."

Der rohe Beton, der einen jetzt noch zurückhält, ist nicht so hoch wie ein Geländer an dieser Stelle sein sollte. Ein vorsichtiger Blick in die Tiefe. 118 Meter weiter unten rauscht ein Lieferwagen vorbei. Zwei Schritte zurück. "Sehr beeindruckend."

In der Stadt der Banken sei das ein Denkmal für den ehrlichen Beruf des Müllers

Raimund Eigenmann nickt. Er ist heute Leiter von Produktion und Technik. Sein Blick geht Richtung Alpen. An diesem klaren Vormittag kann man bis in die Innerschweiz sehen. Vor den Bergen glitzert der Zürichsee in der Frühlingssonne. Das Hochhaus des Konkurrenten Migros, nur einige hundert Meter weiter gelegen, ist trotz des leuchtenden Orange kaum mehr zu sehen. "Was für eine schöne Stadt", murmelt einer der Bauarbeiter. Nicht wenige Zürcher würden in diesem Moment laut auflachen. Ja, natürlich ist Zürich schön. Vor allem, wenn man diesen wahnwitzigen Beton-Tower nicht im Blickfeld hat.

"118 Meter Hässlichkeit" schimpfte der Chefredakteur der NZZ am Sonntag im eigenen Blatt, der Beton-Kubus sei ein "Symbol städtebaulicher Verirrung" mit dem "Charme eines sowjetischen Kriegsdenkmals". Ein grober, grauer Klotz, der die Stadt verschandelt. Und wofür das alles? Um Getreide darin aufzubewahren.

Ein Silo also. Mitten in Zürich. In einer Lage, in der sich die wohl höchsten Mieten Europas erzielen ließen, werden in den nächsten Monaten 20 000 Tonnen Getreide aufgefüllt. Dahinter steht Swissmill, eine Division des Einzelhändlers Coop. Eine ziemlich bodenständige, traditionsreiche Genossenschaft. Ist man dort verrückt geworden? Größenwahnsinnig?

Für Raimund Eigenmann und die vielen Handwerker ist der zweithöchste Turm in Zürich alles andere als verrückt. "Mühle und Getreidelager waren schon immer in der Stadt", sagt Eigenmann. Und überhaupt: Der Mensch muss essen. Ein wesentlicher Teil seiner Nahrung besteht aus Getreide. Warum also soll man dessen Produktion so aus der Stadt auslagern, dass sie unsichtbar wird? In Zürcher Kreis 5, in dem nun der Turm seinen langen rechteckigen Schatten wirft, befindet sich seit jeher Industrie. Die Mühle selbst steht seit 1843 dort.

Auch der Speicher, bei dem Swissmill großen Wert darauf legt, dass er nicht "Swissmill Tower", sondern "Kornhaus Zürich" heißt, steht seit 1957 an eben dieser Stelle, etwa ein Dutzend Bahnwagen und etliche Lastwagen verteilen das Getreide von dort weiter. Bei laufendem Betrieb wurde das ursprüngliche Kornhaus in den letzten Jahren aufgestockt.

Wie viele Millionen Schweizer könnten mit den Körnern wie lange ernährt werden? Rechenbeispiele wie dieses spielt Swissmill nicht mit. Es gehe weder ums Hamstern noch um übertriebene Kriegsvorsorge - ein Motiv, das den Schweizern sonst wohlbekannt ist. Der Speicher sei praktisch. Auch beim Architekturbüro Harder Haas betont man die Zweckmäßigkeit des gut 30 Millionen Franken teuren Baus: In der Stadt der Banken und Versicherungen, in der täglich mit absurd hohen Summen hantiert wird, habe man dem ehrlichen und anspruchsvollen Beruf des Müllers ein Denkmal setzen wollen.

Vor fünf Jahren stimmten die Zürcher ab. Nur zwei Quartiere waren gegen das Silo

Dass mit dem Kornhaus Zürich nur etwa 80 Stellen verknüpft sind: geschenkt. Auch auf der Baustelle, wo in diesen Tagen ökologisch korrekt die Solarzellen angebracht werden, spürt man diesen Stolz: Nicht mehr nur gläserne Büro-Türme, wie der unweit gelegene Prime Tower prägen das Stadtbild, sondern auch dieses Silo. Handwerkerstolz.

Eigenmann blickt den Beton hinunter: An jeder Ecke blinkt eine rote Lampe als Warnung für Flugzeuge. Gegenüber ein weiteres Hochhaus, auch dort wird gebaut. "Das sind Wohnungen, die stehen seit drei Jahren leer. Jetzt hat der Besitzer gewechselt." Eigenmann schüttelt den Kopf. "Diese Wohnungen kosten Millionen. Und jetzt werden sie abgerissen und neu gemacht - obwohl nie jemand darin gewohnt hat!" Ein lautes Klingeln. Eigenmann reißt seinen Blick von den Fensterfronten gegenüber los und geht ans Telefon.

Zwei Minuten später kehrt er lachend zurück. "Schon wieder jemand, der Werbung machen möchte."

Fast täglich erreichen ihn Anfragen von Kreativen aus der ganzen Schweiz, die den fast fensterlosen Turm begrünen, bemalen, behängen wollen. Im Architekturbüro Harder Haas freut man sich über die steigende Zahl von Instagram-Bildern, auf denen der Turm zu sehen ist. Man müsse den Menschen Zeit geben, doch über kurz oder lang würden sie das schlanke Kornsilo in ihr Herz schließen, so die Hoffnung.

Tatsächlich haben vor fünf Jahren 58,3 Prozent der Zürcher für den Bau gestimmt - nur die Quartiere Wipkingen und Höngg, die den Turm direkt in der ansonsten fabelhaften Aussicht haben, votierten dagegen.

Eines ihrer besten Argumente: In den frühen Abendstunden wirft der Speicher seinen Schatten auf das belebte Flussbad "Unterer Letten" - der Freizeitwert des kostenlosen Stadtbads dürfte einen empfindlichen Dämpfer bekommen.

Wie kontrovers die Positionen in Sachen Beton-Tower sind, zeigt auch die Diskussion in der Neuen Zürcher Zeitung. Während der Chef der Sonntagsausgabe den Bau am liebsten wieder einstampfen würden, sieht der Feuilleton-Redaktor (schweizerisch für Redakteur) Roman Hollenstein darin das "bestgehasste Bauwerk Zürichs". Sowieso, die Schweizer und ihre Türme. Eine Hassliebe. Mal begreife man sie als Verschandelung der Berglandschaft, dann wieder sollen sie "einen Weg aus der provinziellen Enge" weisen und werden, schreibt Hollenstein, voll Euphorie begrüßt. Eine solche Phase der Euphorie ist es wohl, die auch das Kornhaus möglich gemacht hat. Im beschaulichen Luzern wohnt man seit einigen Jahren in 90 Meter hohen Türmen, in Zürich wurde 2011 der 126 Meter hohe Prime Tower erbaut, Konkurrent Basel legte 2015 mit einem fast 180 Meter hohen Ungetüm nach. Das Bauwerk des Pharma-Giganten Roche kommt in der Stadt nicht wirklich gut an. Eine beängstigende Demonstration wirtschaftlicher Macht, die jedes menschliche Maß vermissen lasse, urteilen viele. In einigen Jahren soll der zweite Roche-Turm folgen. Geplante Größe: 205 Meter.

Das Kornhaus Zürich wirkt dagegen fast bescheiden. Über dem Getreide allerdings hat sich der Einzelhändler Coop ein verglastes Sitzungszimmer einrichten lassen. Allein die Abflussrohre der Sanitärsysteme dürften einiges gekostet haben.

Vor dem Fenster schwebt ein Wanderfalke vorbei. Raimund Eigenmann deutet nach draußen: Man versuche jetzt, den Raubvogel auf dem Turm anzusiedeln.

Es klingt fast wie ein Versprechen. Wenn der Vogel es schafft, sich an den Beton zu gewöhnen, kriegt die Stadt das auch hin.

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Quelle:
SZ vom 21.05.2016
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