Architektur:Die Stadtmacher

Bald leben achtzig Prozent aller Menschen in Metropolen. Aber den Planern fehlen Utopien für eine postindustrielle Zukunft. Die Internationale Architekturbiennale hätte da ein paar Vorschläge.

Von Laura Weissmüller

Angenommen, all die Zukunftsprognosen, wie sich unsere Städte entwickeln, all die Visionen einer sogenannten Smart City, in der die Technik den Menschen all ihre Alltagssorgen abnimmt, die Parkplatzsuche fürs Auto etwa oder das Bestellen von Lebensmitteln, wenn der Kühlschrank leer ist, wären falsch. Genauso wie die Idee der postindustriellen Stadt, derzufolge es in Ordnung ist, die industrielle Produktion nach Asien zu verlagern und alle alten Fabriken in Lofts und Büros zu verwandeln - was würde das bedeuten? Erstens: dass wir jetzt schon ziemlich viele Bauruinen aus der Zukunft um uns hätten. Denn heute wird das geplant und gebaut, was erst morgen zum Einsatz kommt. Und zweitens: dass der Erdball auf seine größte Krise zusteuert. Denn nicht mehr lange, dann werden 80 Prozent der Bevölkerung Städter sein. Die Metropolen entscheiden über die Zukunft der Welt.

Dass es einen radikalen Kurswechsel braucht, zeigt jetzt die Internationale Architekturbiennale Rotterdam (IABR). Seit 2003 hat sie sich dem Erforschen der Stadt verschrieben. Dieses Jahr prangt die Formel "The Next Economy" auf den Plakaten und dahinter die Frage, welche Form von Wirtschaft die Metropolen prägen werden. Auf was für wackligen Beinen sämtliche Zukunftsprognosen dazu stehen, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Allein die Tatsache, wo Menschen in der Stadt arbeiten, ob in kleinen Werkstätten, großen Fabriken, am Stadtrand oder mit ihrem Laptop auf den Knien im Park, hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg fortwährend verändert. Die Stadtplanung hinkt dem Wandel hinterher, was schon allein daran sichtbar wird, dass im Moment Bürogebäude aus den Achtzigern schon wieder der Abrissbirne zum Opfer fallen.

Wo ehemals Tausende Arbeit fanden, stehen heute ein knappes Dutzend hinterm Tresen

Auch Rotterdams Stadtteil Katendrecht zeigt, wie stark wirtschaftliche Entwicklungen die Gestalt einer Stadt diktieren. Ehemals gehörte die Halbinsel zum Hafen, ausgestattet mit der größten Chinatown Europas, einem vitalen Rotlichtviertel und einer florierenden Drogenszene. Davon zeugen, kaum mehr als ein Jahrzehnt später, fast nur noch alte Lagerhallen wie Fenixloods II, wo jetzt die Ausstellung stattfindet. Wo früher Kaffeebohnen lagerten, sind heute schicke Restaurants, Fahrradshops und ein Lebensmittelmarkt für lokale Produkte eingezogen. Der Vergleich zu Berlin-Kreuzberg liegt nah, Rotterdamer vergleichen Katendrecht mit Brooklyn. So wie in Brooklyn oder Kreuz- berg stellt sich auch in Rotterdam-Katendrecht die Frage, wie nachhaltig solche Hipster-Quartiere sind. Wo ehemals Tausende Arbeit fanden, stehen heute ein knappes Dutzend hinterm Tresen, vor der Tür wird gerade die nächste teure Wohnanlage hochgezogen.

Die Biennale will nun vor allem klarmachen, dass es mehr als nur eine mögliche Zukunft gibt. "Alle reden von der Smart City", sagt George Brugmans, Direktor der IABR seit 2004. Das aber impliziere, dass die Stadt von morgen möglichst viel Hightech benötige. "Vielleicht brauchen wir aber gar nicht mehr technische Innovationen, sondern soziale." Brugmans erinnert an die legendäre Schau "Futurama" auf der New Yorker Weltausstellung 1939, wo General Motors Zigtausenden Besuchern vermeintlich einen visionären Blick auf die Städte der Sechzigerjahre gewährte. Nur: Der Traum vom Hochhaus-Dickicht, das die Bewohner am besten mit dem Auto durchquerten, war eben vor allem die Wunschvorstellung eines Automobilkonzerns. Geprägt hat das Bild die urbane Entwicklung trotzdem. Was früher General Motors war, sind heute Apple, Facebook und Google. Ihre Zukunftsvisionen sollten nicht unsere sein. Aber welche dann? "Wir müssen erst einmal eine neue Sprache für die moderne Stadt finden und auch neue Bilder", fordert Brugmans.

Die wünscht sich der Besucher bei seiner Tour zu den 60 ausgestellten Projekten aber erst einmal für die Ausstellung. Was auf den ersten Blick hübsch minimalistisch aussieht, bleibt erratisch. Ein Laie wird es kaum schaffen, all die Diagramme, Modelle und Karten so zu dechiffrieren, dass er die umfassende Bedeutung der Projekte versteht. Ganz zu schweigen von dem Beispielcharakter, den viele haben.

Richtig ärgerlich wird der fehlende Kontext, wenn er verhindert, dass der Besucher das Gesehene einordnen kann. Was zum Beispiel bedeutet es, dass eine der größten Immobilienfirmen Chinas einen gigantischen Park errichten will? Zeigt das wirklich nur "die sozialen Ambitionen eines Entwicklers"? In einem Land, das gerade auf die größte Immobilienkrise weltweit zusteuert, mit Millionen leer stehenden Apartments und gleichzeitig einem Verdrängungswettbewerb von Bewohnern, ist man sich da nicht so sicher.

Der Zoom mitten hinein ins Projekt wird leider zu selten so geschafft wie bei "Digua Community". Dort beschreiben einfache Pläne, Fotos und kurze Filme detailliert die Arbeit junger Designer, die versuchen, die Lebensbedingungen von einer Art unterirdischer Gesellschaft zu verbessern. Denn in Peking wohnen eine Million Menschen in ehemaligen Luftschutzkellern. Ganz offiziell? "Eher halblegal", sagt der chinesische Gastkurator Yang Lei. Die Bezirkregierung vermiete die unterirdischen Räume, die sich oft in einem katastrophalen Zustand befinden, als Ganzes. Zwischenhändler geben sie an Menschen mit wenig Geld weiter, Taxifahrer, Gastarbeiter, Kellner. Der Designer Zhou Zishu entwarf erst ein Möbelstück zum Zusammenklappen, das in den winzigen Zimmern Platz spart. Dann gründete er die "Digua Community" und baute mit Hilfe der Bewohner, aber auch privaten Sponsoren und der Bezirksregierung, ein knapp 600 Quadratmeter großes Gemeindezentrum unter der Erde, mit Bibliothek, Kino, aber auch Räumen, die Bewohner anmieten können, um dort Geld zu verdienen, etwa als Friseur. Gerade feierten alle die Eröffnung.

Die junge Generation in China ist nicht gegen den Mainstream. Aber sie will etwas ändern

Bekämpft da nicht eine Regierung im Kleinen, was sie im Großen durch die Umsiedlung von Millionen Bauern in die Städte befördert? "Das stimmt", sagt Yang Lei. "Aber die Regierung hat verstanden, dass Stadtentwicklung nach dem Prinzip des schnellen Geldes nicht nachhaltig ist." Der Kurator sieht in Designern wie Zhou Zishu Vertreter einer neuen Generation in China. "Sie sind nicht gegen den Mainstream, aber sie wollen etwas ändern."

Bei dem Projekt aus Utrecht zeigte eine Zahl, dass sich hier etwas ändern muss. Zwölf Jahre Unterschied liegen zwischen dem armen Stadtviertel Overvecht und dem benachbarten Noordoost. Dort vergehen 72 Jahre, bis die Menschen damit rechnen müssen, ernsthaft krank zu werden. Im Arbeiterviertel weiter nördlich droht ihnen das schon mit 60 Jahren. Warum? Der Kurator, ein Architekt, Joachim Declerck, ist davon überzeugt, dass das auch etwas mit der Zentralisierung in den Niederlanden zu tun hat. Sein Team fand heraus, dass gerade in Overvecht kleine Krankenhäuser geschlossen, Sportplätze und alte Schulen abgerissen wurden. "Die Städte müssen mehr dafür sorgen, dass ihre Bewohner länger gesund bleiben", sagt Declerck. Nicht zuletzt, weil die Kosten einer alternden Gesellschaft jedes Stadtbudget sprengen. "Wir brauchen einen Mentalitätswechsel, weg von der Pflege hin zum sich Kümmern." Utrecht, das sich selbst als gesündeste Stadt der Niederlande bewirbt, hat aus Declercks Recherchen bereits Konsequenzen gezogen. Eine zum Abriss stehende Schule wird nun wohl in ein lokales Gesundheitszentrum umgebaut.

Architektur: Die Karte zeigt, wie sich in Brüssel die Arbeitsplätze für einfache Arbeiter und die für gut ausgebildete verteilen. Der Rotanteil dürfte bald zurückgehen, den alte Fabriken sollen zu Wohngebieten umgebaut werden.

Die Karte zeigt, wie sich in Brüssel die Arbeitsplätze für einfache Arbeiter und die für gut ausgebildete verteilen. Der Rotanteil dürfte bald zurückgehen, den alte Fabriken sollen zu Wohngebieten umgebaut werden.

(Foto: Atelier Brussels, IABR & Architecture Workroom)

Mit Fabriken und Schlachthöfen verschwinden auch die Jobs für Arbeiter

"Ursprünglich waren wir Ausstellungsmacher, nun sind wir genauso auch Stadtmacher", sagt Biennaledirektor Brugmans nicht ohne Stolz. Zum ersten Mal habe das 2005 geklappt. Damals untersuchte ein Team der IABR eine Favela in São Paulo, wo die Stadt für 70 000 Menschen neue Sozialwohnungen plante - ohne eine einzige Schule, ohne neue Arbeitsplätze, Infrastruktur oder ein Gesundheitszentrum. Das Biennale-Team plädierte dagegen für ein gemischtes Stadtviertel, mit all diesen Einrichtungen. São Paulo schwenkte um und ließ das 250 Millionen Euro teure Projekt nach den Kriterien der IABR entwickeln. "Das war für mich wie ein Geistesblitz: Wir können unser Netzwerk und unsere Recherchen nützen, um wirkliche Aufgaben zu lösen", sagt Brugmans. Und schiebt hinterher: "Nur eine Ausstellung damit zu machen, wäre eine Verschwendung." Und plötzlich versteht man, warum die Biennale so erratisch bleibt. "Wir sind wie ein U-Boot, das alle zwei Jahre auftaucht und zeigt, was es macht." Vor allem ist das nämlich Arbeit am lebenden Objekt, also der Stadt - mitsamt Regierung, Lobbygruppen, Firmen, aber auch Anwohnern und Umweltschutzverbänden. "Wir können hier Probleme angehen, die Städte in ihrem Alltag nicht einmal sehen, geschweige denn lösen können", sagt Brugmans. Weil Parteigrenzen das verhindern würden oder schlicht die nächste Wahl. Der Deckmantel einer Biennale aber schaffe den nötigen Freiraum. "Solche Prozesse sind schwierig zu verstehen, aber wir können es nicht einfacher darstellen. Die Dinge sind eben komplex", sagt Brugmans.

Doch tatsächlich wäre das nötig, wenn die Biennale ihre so wichtigen Botschaften wirklich in die Öffentlichkeit bringen möchte. Vor allem, dass endlich Schluss sein muss mit dem Dogma der postindustriellen Stadt, wie London sie derzeit in Reinform verkörpert. Wo es fast keine Arbeitsplätze für einfache und mittlere Angestellte mehr gibt, dafür viele für die Finanzindustrie. Und der Wohnraum dem Gehaltszettel letzterer entspricht. "Eine moderne Stadt muss produktiv bleiben", sagt Declerck. "Sonst isst sie sich selbst auf."

In Brüssel hat ein Team untersucht, was der Boom der Wohnungsindustrie für die Stadt bedeutet. Fabriken verschwinden, Schlachthöfe werden ausgelagert, Jobs für Arbeiter kommen auf dem Stadtplan so gut wie nicht vor. "Wenn wir nur Wohnungen bauen, zerstören wir das Potenzial der nächsten Generation für Jahrzehnte." Im viel gescholtenen Stadtviertel Molenbeek etwa liegt die Arbeitslosenquote von jungen Menschen bei 55 Prozent. Was das für Auswirkungen haben kann, weiß seit den November-Anschlägen von Paris jeder.

IABR 2016. The Next Economy. Fenixloods II, Rotterdam. Bis 10. Juli. Info: www.iabr.nl

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