Architektur:Die globale Favela

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Eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien zeigt an 21 beispielhaften Projekten, wie Bauen und Stadtplanung zur Lösung unserer heutigen ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme beitragen kann.

Von Laura Weissmüller

Architektur und Stadtplanung ist nicht unbedingt das, was einem einfällt, wenn man an die Rettung unseres Planeten denkt. Im Gegenteil: Gebautes ist, wenn nicht die Ursache, dann doch zumindest Brandbeschleuniger vieler der globalen Krisen. Bauen ist für 60 Prozent des weltweiten Mülls verantwortlich, der Boom der Städte frisst wertvollen Boden, die Gebäude wiederum benötigen einen Großteil der Energie und zu guter Letzt tragen Neubauten nicht selten zur Verdrängung der angestammten Bevölkerung bei.

Dass Architektur und Stadtplanung sehr wohl auch zur Behebung dieser Probleme taugen, zeigt die Ausstellung "Critical Care" im Architekturzentrum Wien (AzW). Drei Jahre lang haben die beiden Kuratorinnen, die Leiterin des AzWs, Angelika Fitz, und die Stadtforscherin Elke Krasny, 21 Projekte ausgewählt, die deutlich machen, wie das gehen könnte mit der Zukunft unseres Planeten.

Die Auswahl ist so reflektiert wie clever. Nicht nur weil sie Beispiele aus der ganzen Welt zusammenträgt, aus Wien, Barcelona und Berlin genauso wie aus São Paulo, Pakistan und Kibera. Dadurch wird sofort klar: Die Probleme, die diese Projekte bekämpfen, betreffen uns alle. Der globale Süden ist mit den Auswirkungen der Klimakatastrophe nicht mehr allein. Vor Verdrängung müssen sich nicht mehr nur die Bewohner von Favelas und Slums fürchten, sondern auch die Mittelschicht in München-Giesing und dem 7. Bezirk in Wien.

Außerdem sind alle Projekte realisiert. Das bannt die Gefahr, der zahlreiche ähnliche Ausstellungen erlegen sind, nämlich Architektur zum grünen Weltenretter zu stilisieren, der sämtliche Probleme lösen wird, aber eben erst in weiter Ferne. Viele von diesen Wunderprojekten sind Papier geblieben oder sehen in der Realität ganz anders aus als auf dem gepriesenen Masterplan.

Der Blick auf die Praxis hat aber noch einen weiteren entscheidenden Vorteil: Es wird klar, wie viele und vor allem wie unterschiedliche Akteure an einem Tisch sitzen müssen, um wirklich etwas gegen die multiplen Krisen unserer Gegenwart ausrichten zu können. Kein Stil, keine Typologie eint denn auch diese Projekte, sondern ihre Herangehensweise. "Die Graswurzel-Bewegung allein reicht nicht, es braucht neue Allianzen und Bündnisse", so Krasny. Bottom-up und Top-down müssen sich also kreuzen. Stadtverwaltungen, gemeinnützige Unternehmen und NGOs mit Bürgerinitiativen und Aktivsten zusammenarbeiten.

Deutlich wird das zum Beispiel bei dem Projekt in San Juan in Puerto Rico. Wie in vielen Regionen dieser Welt, sind große Teil der Stadt informell entstanden. 25 000 Menschen leben in den Quartieren, die zwischen dem boomenden Finanzdistrikt und der Flussmündung mit den Mangrovengebieten illegal entstanden sind. Während auf der einen Seite die Begierden wachsen, sich die Grundstücke einzuverleiben, drohen auf der anderen Seite Überschwemmungen und Gesundheitsrisiken. Die jüngsten zwei Hurrikane machten das ökologische Desaster sichtbar - und brachten doch die Chance, etwas zu ändern.

Aus einem alten Kaufhaus wurde ein Kulturzentrum - samt Swimming Pool auf dem Dach

Zusammen mit Vertretern der informellen Quartiere, aber auch Rechtsanwälten und Anthropologen wurde in 700 Versammlungen und Workshops das Modell einer gemeinnützigen Bodenstiftung entwickelt, die nun seit 2014 besteht. Bedeutet: Die Grundstücke bleiben im Eigentum der nichtgewinnorientierten Stiftung und können nicht verkauft werden, die Bewohner dürfen sie benutzen und können nicht vertrieben werden.

Einen solchen Community Land Trust für ein informelles Stadtviertel gab es noch nie - und das, obwohl Millionen von Menschen auf der ganzen Welt in solchen Siedlungen wohnen und ständig davon bedroht sind, zwangsgeräumt zu werden und alles zu verlieren. Eine gemeinnützige Bodenstiftung wie die in San Juan entwickelte könnte das verhindern. Sie zeigt aber auch dem reichen Westen, wie man verantwortungsvoll mit Grund und Boden umgeht.

Auch das so großartige, weil geradezu mondäne Projekt in São Paulo hat Beispielcharakter. Dort hat der Architekt Paulo Mendes da Rocha, einer der Großmeister der Moderne, zusammen mit dem Büro MMBB Architects ein ehemaliges Kaufhaus in einen öffentlichen Ort verwandelt. Der gewaltige Betonklotz wurde zu allen Seiten geöffnet und mit Kantine und Café, mit Gesundheitseinrichtungen, Theater, Ausstellungen und Kino gefüllt. Auf dem Dach gibt es sogar ein Schwimmbad. "Der Swimmingpool, der ikonisch für die Architektur der superreichen 'ein Prozent' steht, wird hier zur Architektur der 99 Prozent", sagt Elke Krasny. Es ist ein Plädoyer für den öffentlichen Raum, der wirklich allen zugänglich ist, und gleichzeitig ein Modell, wie man das modernistische Erbe klug, ressourcenschonend und nachhaltig umbauen kann.

Dieses Ineinandergreifen von Funktionen und Zielen eint all die ausgewählten Projekte, so unterschiedlich sie sind. Fitz und Krasny sprechen von einer Architektur des Sorgetragens. Die Sorge beschränkt sich dabei nicht nur auf den Menschen, sondern eben auch auf alle anderen Lebewesen und die Natur. Ökologie, Ökonomie und Soziales bedingen einander. "Man muss diese Felder zusammen denken", sagt Fitz. Auch, weil Bauen immer etwas mit Geld zu tun hat. "Die Geschichte der Architektur ist die Geschichte des Kapitals", wird denn auch die Architektin Peggy Deamer im Katalog zitiert.

Wer nachhaltig bauen will, muss seinen Schreibtisch verlassen und viel Zeit investieren

Der schlechte Ruf der Architektur und die zum Teil harsche Ablehnung, mit der ihr heute immer mehr Menschen begegnen, hat viel mit dem kapitalistischen System zu tun, in dem sie entsteht. "Kapitalozän" nennt die Intellektuelle und Aktivistin Naomi Klein das Zeitalter, in dem wir uns heute befinden. Für Klein haben die gegenwärtigen Krisen ihre Ursache im Kapitalismus.

Es ist deshalb auch kein Zufall, dass in all den in Wien gezeigten Projekten "andere Ökonomien an der Arbeit waren", so Fitz. Schon allein, weil bei keinem ein Architekt oder Stadtplaner allein beschloss, was zu bauen sei. Und weil alle Zeit brauchten, viel Zeit.

Wer zum Beispiel wie in Barcelona ganze Stadtviertel vom Autoverkehr befreien will, der muss sich auf unzählige Bürgerversammlungen einstellen. Dass es sich lohnt, zeigt das "Superblock-Modell" seit 2016. Oder wer wie Yasmeen Lari, die Grand Dame der pakistanischen Architektur, verstehen will, wie Gebäude gegen Erdbeben und Überschwemmungen resistent und gleichzeitig nachhaltig und erschwinglich selbst für die Ärmsten sein können, der muss dauerhaft seinen Schreibtisch verlassen und sich auf die Reise durchs Land machen.

Es ist faszinierend, wie dabei neueste Ansätze mit traditionellen Baumethoden verknüpft werden, etwa bei der chinesischen Architektin Xu Tiantian, die in Peking und Harvard studierte und sich seit 2014 für den Landkreis Songyang einsetzt. Zusammen mit der Bevölkerung des kleinen Bergdorfs Caizhai hat sie eine Tofufabrik entwickelt, die den Bauern mehr Einkommen ermöglicht, sich mit ihrer lichten Holzkonstruktion wunderschön in die Landschaft der Bergregion einpasst und die strukturschwache Gegend für einen sanften Tourismus öffnet. So viel Idylle hätte man China gar nicht mehr zugetraut. Die Zentralregierung dort denkt nun darüber nach, wie sich die "Songyang-Strategie" auf andere ländliche Gebiete übertragen lässt. Sage einer, die Architektur wäre machtlos.

Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise. Architekturzentrum Wien. Bis 9. September. Katalog (MIT Press) 38,80 Euro.

© SZ vom 10.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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