Architektur:So sieht die Zukunft der Stadt aus

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Das neue Baurecht entzündet die Kreativität der Architekten wie selten zuvor. Ein Vorschlag aus München illustriert eine Welt ungeahnter Möglichkeiten.

Von Gerhard Matzig

Sie liegt da, als ob sie schliefe. Und im Zweifel, leise, ganz leise, finden die neuen Nachbarn im Münchner Westen das auch beruhigend. Denn die Paketposthalle, die - entworfen von Rudolf Rosenfeld und Herbert Zettel - in den Sechzigerjahren als Sensation galt, als "weitgespannteste Halle der Welt aus Fertigteilen", 145 Meter weit, 124 Meter tief und bis zu 30 Meter hoch, hat in ihrem monumentalen Betongerippe etwas von einem im Sand lauernden Ungetüm der Saurierzeit. Die Schöne sprengt alle Maßstäbe, sie ist gigantisch, titanisch, ja wunderbar. Vielleicht wirkt das neue Wohnen drumherum deshalb so seltsam zwergenhaft.

Es berührt, wenn sich Menschen in ihren Wohnungen einrichten. Wenn daraus die Sehnsucht spricht nach einem Angekommensein samt Briefkasten und Vorhängen. Wenn auf der Fußmatte im zweiten Stock "welcome" steht, wenn im Erdgeschoss die erst hüfthohe Hecke noch an Suppengrün erinnert und wenn im Mini-Garten ein Sack Blumenerde auf die Kultivierung des handtuchgroßen Terrains wartet. Die Gartenmöbel dösen in der frühlingshaften Münchner Sonne, die sich an den weißen Sahnebaiser-Fassaden einer Anlage namens "Pandion Gardens" bricht. 145 Eigentumswohnungen sind hier entstanden - im "oberen Preissegment". Alles schon verkauft. Und zwar zu einem durchschnittlichen Quadratmeterpreis von etwa 6500 Euro. Der zweite Bauabschnitt hat gerade begonnen, aber "Gardens II" ist auch bereits verkauft. Das frisch aufgebügelte Himmelsblau wölbt sich darüber und lässt die Gegend nahe den Bahngleisen und Verkehrsschneisen für einen Moment in dem irren Glauben, sie sei die Côte d'Azur.

Ob Gott auf einen Drink vorbeischaut, weiß der Himmel

Das Areal zwischen der fast schon brooklynartig und urban umtosten Donnersbergerbrücke und dem arkadischen Idyll des Hirschgartens, wo im 18. Jahrhundert der Hopfen für die kurfürstlichen Brauhäuser angebaut wurde, ist ein Hotspot für Investoren. Vor allem Wohnungen sollen entstehen. Sowie Gewerbe, Büros und Kultureinrichtungen. Weshalb die stadträumlich dominante Paketposthalle schon längst zu den Begehrlichkeiten gehört. Zuletzt sollte das Monument der Moderne eine ganze Musikstadt in sich aufnehmen. Samt neuer Philharmonie. Doch nachdem sich für den noch zu erbauenden Konzertsaal ein anderer Standort im östlichen München durchgesetzt hat, wurde die Idee begraben.

Außerdem, so die jüngste Entwicklung, will die Post diesen vergleichsweise zentral gelegenen Logistik-Standort gar nicht mehr aufgeben. Ohnehin steht das Tragwerk, es gehört zu den wenigen Zeugnissen der Nachkriegsmoderne in München, unter Denkmalschutz. Die Investoren puzzeln daher ihre Wohn- oder Bürowelten mittlerweile um die Halle herum. Hier die gewaltige Realität der industriellen Halle, dort der putzige Schöner-Wohnen-Traum von der Côte d'Azur.

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Eine andere, klügere und anregende Lösung zur Zukunft der Paketposthalle schlagen die Architekten Markus Allmann, Amandus Sattler und Ludwig Wappner vor. Im Auftrag der Immobilienabteilung der Landesbank Baden-Württemberg, LBBW, hat das Münchner Büro, das zu den innovativsten der deutschen Architekturszene zählt, darüber nachgedacht, rein spekulativ, ob sich Halle und Wohnen verbinden ließen. Das hier erstmals veröffentlichte Ergebnis ist so verblüffend, weil es nicht nur ein fulminanter Beitrag zur Diskussion um den Wohnraummangel in Zentren ist, sondern auch die Zukunft der Stadt in eindringlicher Weise beschwört.

Das Büro lässt die ingeniöse Schalenkonstruktion der Halle im Grunde unangetastet. Darüber aber plant man - wie einen Brückenschlag - eine weitere Schale aus Stahl, um darauf ein nach Südwesten und Nordosten situiertes Terrassenwohnen in Leichtbauweise zu ermöglichen. Die von zwei Schrägseilbahnen erschlossenen, mit Wegen durchzogenen und begrünten Wohnbereiche (samt öffentlichem Raum am Scheitelpunkt) könnten auf 18 500 Quadratmetern ausdifferenzierte und smart geschnittene Wohnräume für bis zu 500 Menschen bieten. Mit einem spektakulären "Tal"-Blick obendrein.

Die Halle selbst, die im Grunde als gewaltige Klimahülle fungiert, würde inmitten eines vom Dachregenwasser gespeisten, ökologisch sinnfälligen Beckens Platz bieten für ein Hotel, für Büros, Sport, Gewerbe oder Kultur. Auf diese Weise würde in München, das architektonisch und stadträumlich zuletzt vor Jahrzehnten auf mitreißende Weise von sich hören ließ, ein zeichenhaftes, identifikatorisch außerordentlich wirkmächtiges Hybrid-Gebilde entstehen. Das ist eine Vision für München und eine Utopie für das Wohnen der Zukunft.

Erst Anfang des Monats, das ist der realistische Hintergrund für diese Idee von einem anderen Wohnen, hat der Bundestag jener Novelle des Baurechts zugestimmt, die unsere Welt verändern wird wie keine Novelle zuvor. Denn sie schafft, so Bundesbauministerin Barbara Hendricks, die zu den Glücksfällen der Politik zählt, tatsächlich "neue Möglichkeiten für das Zusammenleben". Indem nämlich das räumlich direkt benachbarte, urban dichte Miteinander von Gewerbe und Wohnen, von Arbeits- und Lebensräumen baurechtlich gefördert wird. Gewerbesteppen auf der einen Seite und Schlafregale auf der anderen Seite - das ist Vergangenheit. Die Zukunft heißt: "urbanes Gebiet". Diese neue Gebietskategorie der Raumplanung ist das Herzstück der Baurechtsnovelle. Der Plan von Allmann Sattler Wappner ist so etwas wie die ultimative Illustration dazu.

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Doch zeigt sich der Wandel im Nachdenken über den Stadtraum auch anderswo. Die Architekten erleben derzeit sogar eine regelrechte Renaissance planerischer Kreativität. Für das Londoner Viertel Hackney Wick hat sich Assemble, ein Kollektiv von Architekten und Designern, die temporäre Nutzung einer Autobahnbrücke ausgedacht. Aus dem tristen Brückenunterstand wurde so ein Kinosaal oder auch ein Ausstellungsraum. Apropos Brücke: Das Projekt "Living Bridge" ist schon länger bekannt. Darunter ist der Mut zur Brücke zu verstehen, mit dem ein Investor eine 60 Meter hohe, baufällige Brücke der A 3 in der Nähe Limburgs umwandeln möchte. Aus den Stützen formt er Wohntürme.

Was sich wie eine Fieberfantasie anhört, ist im kleineren Maßstab längst Realität. In Nordrhein-Westfalen wurde bereits ein Supermarkt, ein Getreidesilo oder eine ehemalige Fabrik zu Wohnzwecken umgebaut. In den Niederlanden ist in eine frühere Kirche sogar ein Nachtclub eingezogen. Ob Gott gelegentlich auf einen Drink vorbeischaut, weiß allerdings der Himmel.

Unten arbeiten und oben wohnen. Diese Erfindung gibt es schon lange. Sie heißt Schwabing

Was den Städten im Zeitalter globaler Verstädterung (bald lebt der Großteil der Weltbevölkerung in Metropolräumen) fehlt, das ist bezahlbarer Wohnraum. Zwar wird gebaut wie nie zuvor, aber Häuser und Wohnungen entstehen hierzulande infolge billiger Kredite und einfacher Planbarkeit vor allem dort, wo sie nicht gebraucht werden, auf dem Land. Der Grund: Grundstücke in Städten sind selten und somit teuer. Der Gedanke der Umnutzung liegt nahe. So könnten überall in den Städten Infrastrukturen oder Gewerbebrachen überbaut, neuinterpretiert und auch sonst in mannigfacher Weise zurückerobert werden.

Das jüngst erst fertiggestellte "Stelzenhaus" über dem Parkplatz eines Bades in München ist erst der Anfang. Die Paketposthalle als Bungalowsiedlung wäre ein nächster, ziemlich kühner Schritt. Die Zukunft ist aber so oder so die der räumlich dichten, sich nach oben entwickelnden, statt sich breiig und jägerzaunartig in die Peripherie ergießenden Hybridstadt.

Ganz neu ist der Gedanke, wonach Wohnen und Gewerbe räumlich in eine enge Koexistenz gehören, übrigens nicht. Er wurde nur vom Dogma des zonierten Städtebaus und vom Elend des bisherigen Baurechts verdrängt. Dass Städte dann am besten funktionieren, wenn unten gearbeitet und oben gewohnt wird - man weiß das längst. Man kann dieses Wunder zum Beispiel in Schwabing oder in Manhattan besichtigen. Üblicherweise nennt es sich "Stadt".

© SZ vom 30.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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