Architektur:Bis auf die Knochen

Im belgischen Melle steht ein Gebäude, das heilige Architektenregeln ignoriert, aber gerade deshalb zukunftsweisend ist.

Von Laura Weissmüller

Wer sich dem großen Psychiatriegebäude aus Backstein nähert, ist erst einmal irritiert. Ist es doch eine Bauruine? Das Dach ist bis aufs Gerüst abgedeckt, vielen Fenstern und Türen fehlt der Rahmen. Gleichzeitig hat der Eingang aber einen so strahlend weißen Vorbau, dass klar ist: Irgendetwas ist hier passiert. Im Erdgeschoss wächst dann ein Baum neben einer Straßenlaterne aus dem Boden, der nur mit Schotter belegt ist. Den Wänden fehlt der Putz. Dafür finden sich auf allen Etagen gläserne Häuschen, mal stehen Stühle darin, manchmal auch ein Tisch. Allein die Wanderung durch dieses wundersame Haus löst ein gigantisches Freiheitsgefühl aus. Der Besucher ist gleichzeitig drinnen und draußen, will sofort jeden Winkel in einem Gebäude erkunden, dem ganze Stockwerke fehlen, in dem aber ein offener Kamin mit Feuerholz jederzeit benutzt werden kann.

"So, wie Sie das Gebäude jetzt erleben, haben wir es vorgefunden", sagt Jan de Vylder mit Blick durch das offene Dach. Der belgische Architekt hat mit seinem Büro De Vylder Vinck Tailieu (DVVT) in Melle bei Gent den "Josef"- wie hier alle den Backsteinbau nur nennen -, ja, was? Saniert trifft es nicht und umgebaut auch nicht. "Wir wollten das Skelett des Gebäudes erhalten, damit es später vielleicht ganz anders genutzt werden kann."

Das klingt für einen Architekten ungewöhnlich, denn es bedeutet, dass er bei der eigenen Arbeit eine spätere Veränderung gleich miteinkalkuliert. Aber just dieser Ansatz macht "Josef" so außergewöhnlich. Denn der Bau war zwar nach dem Eingriff von DVVT sofort einsetzbar. In den Glashäusern treffen sich Psychiater und Patienten zu Therapiestunden, dort finden auch Teamsitzungen statt. Das rund um die Uhr zugängliche Erdgeschoss besitzt einen Bereich für Veranstaltungen. Aber das Haus könnte in Zukunft auch ganz anders genutzt werden.

Die Architekten schreiben mit ihrem sanften Umbau nichts für die Ewigkeit vor. Leicht ließen sich etwa Wände einziehen oder Öffnungen schließen. "Als Architekt kann man nicht nur ein Zukunftserfüller, sondern auch ein Zukunftsermöglicher sein", so de Vylder, der mit seinen grauen Haaren und der abgegriffenen Ledertasche auch als Philosophieprofessor durchgehen würde.

Spätestens hier merkt man, dass nicht nur Josef, sondern auch die Haltung von DVVT ungewöhnlich ist. In der Regel beharren Architekten eisern auf ihrem Urheberrecht. Kaum einer lässt freiwillig zu, dass sein Werk umgebaut wird, egal wie sinnvoll das sein mag.

PC CARITAS. Melle, Belgien,

Alt oder neu? Der historische Backsteinbau in Melle bei Gent lässt sich nicht mit den üblichen Kategorien erfassen.

(Foto: Filip Dujardin)

DVVT geht aber noch weiter. Ihr Entwurf fordert geradezu dazu auf, von der nächsten Generation neu interpretiert zu werden. Eigentlich logisch, schließlich stehen Häuser Jahrzehnte. Wie soll ein einzelner Architekt oder ein Büro wissen, wie sich die Wünsche und Bedürfnisse einer Gesellschaft ändern? Das Psychiatriegebäude in Belgien ist in dieser Hinsicht extrem ehrlich - und schafft gerade dadurch etwas radikal Neues.

Für sanierungsbedürftige Altbauten ist das die absolute Ausnahme. In der Regel werden diese abgerissen. In Zeiten, in denen Grundstückspreise explodieren und sich mit teuren Eigentumswohnungen viel Geld verdienen lässt, erfolgt der Abbruch noch schneller. Selbst denkmalgeschützte Gebäude sind nicht mehr sicher. Droht sich Widerstand dagegen zu formieren oder der Denkmalschutz Probleme zu machen, rechnet der Eigentümer die Kosten für eine Sanierung vor. Danach hat das alte Gebäude kaum mehr eine Chance. Denn wenn die veranschlagten Sanierungskosten hoch genug ausfallen, erscheint der gewünschte Abbruch als einzig rentable Variante.

Dass diese Rechnung falsch ist, zeigt schon der Hinweis auf die graue Energie, die in so gut wie keiner Kalkulation auftaucht. Unter grauer Energie versteht man die gesamte Energie, die notwendig war, um ein Gebäude zu errichten - vom Material über den Transport bis zur Konstruktion und der Entsorgung. Dazu kommen gewaltige Müllberge. Das Bauen ist für mehr als 50 Prozent des weltweiten Abfalls verantwortlich. Mit solchem Wissen die Abrissbirne in Bewegung zu setzen, ist verantwortungslos.

Genauso schwerwiegend dürfte für eine Gesellschaft aber auch sein, dass durch das Verschwinden von Altbauten die Atmosphäre, ja, so etwas wie der Geist des Hauses verloren geht, den viele Menschen intuitiv wahrnehmen und schätzen. Eine Gesellschaft beraubt sich ihres gebauten Gedächtnisses.

Auch auf den Bau in Melle wartete eine "Abrissprämie", Geld, das die öffentliche Hand in Belgien zahlt, wenn ein Gebäude nicht mehr zu sanieren ist. Doch während der Abbruch bereits lief, fand sich Asbest im Backsteinbau. Alles musste unterbrochen werden. Zur zeitlichen Zwangspause kam ein Direktorenwechsel bei der Psychiatrie. Der neue Leiter rief 2016 einen Ideenwettbewerb aus, und was Jan de Vylder statt eines Abrisses vorschlug, klingt noch immer abwegig: Lasst es reinregnen! Stellt Gewächshäuser und Straßenlaternen rein! Und der Baum darf bleiben! Der Zuschlag ging damals trotzdem an ihn und sein Büro, zusammen mit einem Budget, das gerade mal 100 000 Euro plus der Abrissprämie von 300 000 Euro ausmachte.

PC CARITAS. Melle, Belgien,

Was ist innen, was ist außen? Die Grenzen in dem historischen Backsteinbau sind fließend. Das belgische Architekturbüro DVVT zeigt mit seinem Umbau, wie aus sanierungsbedürftigen Altbauten etwas radikal Neues entstehen kann.

(Foto: Filip Dujardin)

"Wir waren glücklich, nicht mehr Budget zur Verfügung zu haben", sagt der Belgier. Noch so ein Satz, der für Architekten eher untypisch ist. Aber das knappe Budget zwang - oder Jan de Vylder würde vermutlich eher sagen, erlaubte - dem Büro, nur das zu machen, was wirklich nötig war. Für eine Komplettsanierung wäre dreimal so viel Geld notwendig gewesen, so der Architekt, das Entdeckergefühl, das ein Haus ohne Dach auslöst, aber hätte sich sicherlich nicht eingestellt. "Wir müssen neu darüber nachdenken, wie wir die Dinge nutzen können, die wir haben."

Fast allen Bauherren fehlt dazu die Vorstellungskraft. Stattdessen fordern sie den Höchststandard, egal ob es um Wärmedämmung, Energieeffizienz oder Sicherheit geht. Das lässt die Kosten in die Höhe schnellen, obwohl nicht selten der Sinn der Standards fraglich ist. Ganz zu schweigen davon, dass Höchststandards oft Höchstverhinderer sind, wenn es darum geht, etwas Neues auszuprobieren.

"Viele Menschen scheinen zufrieden zu sein, wenn die Standards erfüllt sind", sagt de Vylder, und es ist klar, dass ihm das nicht reicht. Dass ihn Standards und starre Festlegungen herausfordern. Deswegen mag der Architekt auch keine digitale Renderings, wo alles bereits detailliert ausformuliert ist. Seine Entwurfszeichnungen sehen eher aus wie Strichgewitter.

Passend dazu ähnelt sein Büro mitten in Gent einem Künstleratelier. Im Chefzimmer, das sich de Vylder mit Jo Taillieu und Inge Vinck teilt, stehen große Zeichenschränke und altertümliche Architekturmodelle neben Materialproben, etwa Ziegel, Holz und Steinbrocken. Von der Stuckdecke baumeln Glühbirnen. Einen Computer sucht man vergeblich. Dafür gibt es einen offenen Kamin, wo ein Löwe der Architekturbiennale von Venedig - eine der höchsten Auszeichnungen in der Architektur überhaupt - seinen Platz zwischen Bildbänden, Abhandlungen von Philosophen und Gedichtsammlungen gefunden hat.

Jan De Vylder

Der belgische Architekt Jan De Vylder fordert: Niemals den Kontext verlieren, nur die Dinge ein klein wenig ändern.

(Foto: Filip Dujardin)

"Niemals den Kontext verlieren, nur die Dinge ein klein wenig ändern", beschreibt de Vylder das Motto für jedes Projekt, sei es eine Modeboutique oder das Besucherzentrum in einem Naturschutzgebiet. Dementsprechend unterschiedlich fallen die Entwürfe des Büros aus. Auffallend ist die Liebe zu einfachen Materialien - "sie besitzen eine ganz besondere Schönheit" - und die Meisterschaft darin, weiterzubauen. Der Architekt führt das auf seine Heimat zurück: Viele Belgier hätten die Fähigkeit, selbst zu bauen. Das sollte man fördern. "Es braucht nicht immer einen Architekten. Wer kochen will, dem reicht ja auch ein Kochbuch. Nicht immer muss der Chefkoch in der Küche stehen." Noch so ein Satz, bei dem so manchem Architektenkollegen die Haare zu Berge stehen würden, denn sie kritisieren es, wenn ohne sie gebaut wird, weil dann oft Baumarkt-Hässlichkeiten herauskommen.

De Vylder ist nachsichtiger, was nicht bedeutet, dass DVVT--Gebäude nicht perfekt durchchoreografiert wären. Jede offene Wand, jeder fehlende Fensterrahmen, jeder Durchbruch folgt einer ausbalancierten Gesamtästhetik.

Doch was bedeutet ein so freigeistiges, ja, experimentelles Haus für eine Psychiatrie und ihre Patienten? Dazu gab es in Melle viele Debatten. Gerade die Ärzte, Therapeuten und Pfleger diskutierten heftig. Könnte ein solches Gebäude nicht Ängste bei den Patienten auslösen? Das tut es bei manchen tatsächlich, aber eine Psychiaterin beschreibt gerade das als Gewinn. So biete sich die Möglichkeit, mit dem Patienten über seine Ängste zu sprechen. Andere nehmen den Baum mitten im Haus zum Anlass, um mit ihren Patienten ins Gespräch zu kommen. Und ein Arzt vergleicht den neuen Josef mit einer Narbe: Beim Verheilen einer Wunde bleiben eben immer Spuren zurück.

Wer liest, wie viele Menschen sich hier Gedanken über ein psychiatrisches Gebäude und seine Auswirkungen gemacht haben, der kann fast schon zornig darüber werden, wie dagegen in Deutschland Psychiatrien oft aussehen. Es sind meist unmenschliche Kästen, mit wenig natürlichem Licht und noch weniger Farbe, als wüsste man nicht seit Jahrzehnten, dass gute Architektur zum Heilungsprozess eines Menschen beiträgt, ganz gleich, ob die Krankheit im Körper oder im Kopf steckt.

Aber wäre ein Psychiatriegebäude wie in Melle nach deutschem Baugesetz überhaupt möglich? "In Belgien ist dieses Gebäude nach belgischen Baugesetz auch nicht möglich", sagt de Vylder. "Hier geht es nicht um Regeln und Standards." Die hat DVVT schlicht kreativ ausgehebelt. Etwa indem sie Josef nicht als Gebäude behandelt haben, sondern wie einen Außenraum. Sonst wäre auch die offene Feuerstelle nicht erlaubt. Wer Neues schaffen will, darf sich nicht immer an alte Regeln halten.

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