Süddeutsche Zeitung

Architektur-Biennale in Venedig:Zurück zu den Ursprüngen

Rem Koolhaas zeigt in Venedig, wie unsere Welt durch Gebautes strukturiert wird. Statt auf Meisterwerke und große Visionen konzentriert er sich auf die Details.

Von Laura Weißmüller

Wo Alfred Hitchcock, Master of Suspense, seinen Spannungsaufbau herhat? Von der Architektur. Etwas, was uns ständig umgibt, löst den größten Schauder aus, wenn es sich plötzlich als Bedrohung herausstellt. Egal ob Tür, Rampe oder Korridor - sobald die Kamera auf ein gebautes Element scharf stellt, wird es denn auch unheimlich. Dann dampft es bedrohlich unten dem Türschlitz hervor, erzeugen endlos lange Flure ein emotionales Tremolo oder wehen weiße Vorhänge dramatisch durch geöffnete Fenster. Wer hier ein Happy End erwartet, muss schon ein gnadenloser Optimist sein. Das zumindest suggeriert der Film, der diese 14. Architekturbiennale in Venedig eröffnet und aus unzähligen Meisterwerken quer durch das letzte Jahrhundert architektonische Detailbetrachtungen gefiltert und diese nach Obergruppen sortiert nahtlos aneinander montiert hat. Der Blick auf die Einzelteile unserer gebauten Umwelt ergibt eine schier endlose Spannungssteigerung - und ist mit seinem Pathos, aber auch seiner Akribie die perfekte Eröffnung für Rem Koolhaas' "Fundamentals". Der niederländische Architekt gilt als der größte Visionär seiner Sparte, doch tatsächlich interessiert ihn hier die Vergangenheit. Denn nur wer sie lesen kann, wird die Gegenwart verstehen.

Deswegen macht Koolhaas mit seinem jungen Team im zentralen Pavillon auf dem Giardini-Gelände nichts anders als: gnadenlos scharf stellen auf das, was uns tagtäglich umgibt: Dach, Wand, Boden und Tür - und wie sich diese Elemente seit ihrer Entstehung verändert haben. Der Grusel stellt sich dabei ganz automatisch ein. Gut möglich, dass wir nach dieser fulminanten Biennale unsere gebaute Umgebung mit anderen Augen sehen werden. Ein wenig so, wie man nach Hitchcocks "Die Vögel" Möwen auch eine gewisse Zeit lang mit etwas Argwohn betrachtet hat.

Warum? Das zeigt gleich der erste Raum. Der widmet sich der Geschichte der Decke. Doch wie die im Kuppelsaal tatsächlich aussieht, kann der Betrachter kaum sehen. Eine zweite Decke, wie sie heute in jedem Bürogebäude oder Kaufhaus zu finden ist, durchkreuzt den Saal. Indem diese so tief hängt, verdeckt sie zwar das Kuppelfresko, doch dafür wird plötzlich das sichtbar, was sonst im Verborgenen bleibt: unzählige Lüftungsrohre, Schläuche und Kabel, die über den dünnen Kunststoffpaneelen angebracht sind als wären sie deren gigantischer Turboantrieb. Zusammen wirkt das wie ein Science-fiction-artiges Fortbewegungsmittel, ein Raumschiff, das sich zwischen Betrachter und Deckenfresko gezwängt hat. Dabei handelt es sich nur um eine ganz gewöhnliche Standarddecke. Was sich hinter ihr versteckt - und sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer weiter aufbläht - ist der Funktionsapparat unserer Hightechhäuser. Das, was jahrhundertelang Heerscharen von Künstlern ein Auskommen beschert hat - die möglichst prächtige Gestaltung der sichtbaren Oberfläche - spielt dagegen keine Rolle mehr.

Zu jedem Bauelement ist ein eigenes erklärendes Buch erschienen

Das ist natürlich die extreme Verkürzung einer doch etwas längeren Geschichte, doch optisch erzählt sie sich dramatisch. Was über unser aller Köpfe hängt, zeigt plötzlich sein wahres, bedrohliches Gesicht. Das Auge löst bei diesem Anblick fast von selbst Alarm aus. Wer es trotzdem genauer wissen will, der kann die detaillierte Decken-Genese zum Supercomputer in einem überdimensionalen Folder an der Wand nachlesen. So funktioniert das in all den 16 Kapiteln, die sich Rem Koolhaas vorgenommen hat, um seine Architekturgeschichte zu schreiben: Die Entwicklung ist visuell spektakulär verknappt - von der Feuerstelle sprichwörtlich zum Toaster - doch die genaue Information dazu ist immer griffbereit. Zu jedem einzelnen Bauelement erscheint ein eigenes umfassendes Buch. In der Gesamtheit ergibt das - wie nicht anders zu erwarten, bei einem, der sich selbst eine kannibalistische Liebe zur Information attestiert - eine Enzyklopädie unserer gebauten Welt.

Doch was bedeutet es, dass wir gar nicht mehr wissen, was uns da tagtäglich umgibt? Und selbst wenn wir es sehen, es kaum verstehen? Die Labyrinthe aus Kabeln und Leitungen, die intelligenten Oberflächen, die wir zwar mühelos bedienen können, aber ohne zu kapieren, was dabei passiert; alles, was unsere moderne Welt am Laufen hält, uns aber unlesbar erscheint. Vermutlich genau das: Die Technologie, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg ständig selbst überholt, hat uns von den realen Dingen abgekoppelt. Kein Wunder, dass wir keine Beziehung mehr zu ihnen haben. Für den Schutz eines monumentalen, nicht besonders schönen Bahnhofs aus den Zwanzigerjahren in Stuttgart demonstrierte eine ganze Stadt. Wenn intakte Bauten aus den Sechzigern und Siebzigern in einem Tempo abgerissen werden, als gelte es einen Rekord zu brechen, fällt dagegen kaum ein Wort des Widerspruchs.

Umso wichtiger ist eine Ausstellung wie "Fundamentals", denn sie schafft die Grundvoraussetzung für ein Bewusstsein unserer gebauten Umwelt. Da diese nicht aus Museen, Konzertsälen und sonstigen Sonntagsbauten besteht, sondern aus dem banalen Durchschnitt dessen, was ein Dach trägt, liefert diese Biennale, anders als viele ihrer Vorgänger, auch keine Hitliste der Baukunst und auch keine Meisterwerke von Superstars der Architektur. Dafür wird hier der Alltag durchdekliniert, bis hin zur Klobrille. Das verstärkt noch einmal den Thrill, denn so schön Michelangelos Treppenaufgang in der Biblioteca Laurenziana in Florenz oder Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp auch sein mögen, Standard sind sie nicht. Aber nur der ist uns so nah, dass seine technoide Entwicklung uns Gänsehaut bereitet.

"Früher konnte die Architektur weder sprechen, zuhören, noch etwas übermitteln. Heute kann sie es. Die Frage ist nur, ob wir uns das auch wünschen sollten", sagt Koolhaas über ein intelligentes Heizungssystem, das sich nach drei Wochen Benutzung merkt, wie der Bewohner am liebsten liest, schläft und auch sonst seinen Tag verbringt.

Die Geschichte der Tür macht klar, warum solche intelligenten Systeme nicht überall angewendet werden sollten. Da gibt es das wandfüllende Foto einer Burg, die mit nicht weniger als 14 Toren feindlichen Angreifern Paroli bietet und die größte Ingenieurskunst dieser Zeit aufwendet, um die Angreifer abzuwehren. Doch die tödliche Raffinesse wendet sich nur gegen die, die mit schlechten Absichten den Zickzackweg zur Burg emporsteigen.

Bei einer gewöhnlichen Sicherheitskontrolle am Flughafen ist das heute anders. Der Parcours aus Röntgenapparaten und Metalldetektoren behandelt spätestens seit dem 11. September 2001 jeden Passagier als potenziellen Terroristen. Eine solche Durchsuchungszeremonie, gerne mit ausgezogenen Schuhen, weckt Zweifel am Heilsversprechen der Technik, und man beginnt sich zu fragen, was wohl zuerst da war: die Industrie des Sicherheitsapparats oder der Wunsch nach Sicherheit. Auch Detektoren brauchen Abnehmer - genauso wie Dämmmaterial und dreifachverglaste Fenster. Die Baustofflobby ist der größte Unterstützer der energetischen Sanierung im vermeintlichen Dienste der Klimarettung. Eine von vielen Gedankenketten, die diese Biennale in Gang setzt.

Es ist kein Zufall, dass dabei die Kapitel die spannendsten sind, die sich mit Bewegung im Raum auseinandersetzen. Ist doch das 20. Jahrhundert eines des ständigen Schneller, Weiter, Höher. Im Vorwärts zeigt sich der Charakter, etwa durch die Geschichte des Korridors, die auf Forschungen des Architekturhistorikers Stephan Trüby zurückgeht und die zeigt, wie aus einem Herrschaftszeichen eine kafkaeske Angstmachmaschine wurde.

Früher konnte die Architektur weder sprechen noch zuhören, heute kann sie es

Oder die Genese der Rampe, die anhand von zwei ihrer leidenschaftlichsten Befürworter erzählt wird, dem französischen Architekten Claude Parent, der ein Leben im horizontalen Raum als Zeitverschwendung bezeichnete und sein eigenes Haus komplett aus auf- und absteigenden Rampen zusammensetzte. Und dem Amerikaner Tim Nugent, der sich zum Ziel gemacht hat, die Welt rollstuhlgerecht zu machen.

Etwas, was Friedrich Mielke nicht unterstützen würde, obwohl er im Krieg ein Bein verloren hat und selbst im Rollstuhl sitzt. Das hindert den Gründer des Instituts für Treppenforschung nicht, die Bedeutung zu analysieren, die zwischen zwei Stufen steckt, und herauszufiltern, was der Treppenabstand über den Status des Benutzers aussagt, und das Tempo, mit dem man diese nimmt, über die jeweilige Zeit.

Bewegung verräumlicht Architektur; erst sie macht diese lebendig und in gewisser Weise dreidimensional. Genau das ist es, was auch den zweiten Teil der Hauptausstellung, "Monditalia" im Arsenale, so vitalisiert. Eigentlich wollte Koolhaas dieses Gelände für seine Biennale schließen, doch er durfte nicht. Zum Glück. Denn hier wird an das Versprechen der Architektur als Gesamtkunstwerk erinnert: Filme erzeugen ein Echo zu den ausgestellten Arbeiten; mehrere Bühnen sind aufgebaut, die Tänzern, Musikern und Schauspielern ein Podium bieten - und dem Arsenale gleich mit. Denn durch all die Treppen, Tribünen und Arenen, die für die Bühnen hier entstanden sind, nimmt man die Halle der ehemaligen Seilfabrik plötzlich bewusst wahr.

Dem Kurator Ippolito Pestellini Laparelli, Mitarbeiter in Koolhaas' Forschungsteam AMO, ist aber auch der perfekte Gegenpart zu "Fundamentals" gelungen. Konzentriert sich Koolhaas auf die Elemente, fokussiert Laparelli auf das Land Italien. Wie im Scanner wird es Schicht für Schicht in 41 Forschungsprojekten durchleuchtet, von Süden nach Norden, von der ehemaligen Kolonie Libyen und dem Flüchtlingsdrama auf Lampedusa bis nach Südtirol, wo die Klimaerwärmung zum Abschmelzen der Gletscher führt.

In dieser Ausstellung wirkt Italien tatsächlich wie das interessanteste Land der Welt: Monditalia. Gleichzeitig macht der Fokus aber auch Parallelen sichtbar, die eine immer globaler werdende Welt hervorbringt. Assisis Versuch etwa, mit jährlich sechs Millionen Touristen und Pilgern zurechtzukommen - bei 28 000 Einwohnern. Oder die moderne Ruine auf La Magdalena, wo die Natur sich ein Hightech-Kongresszentrum zurückerobert, weil Berlusconi über Nacht entschied, den G8-Gipfel nicht hier, sondern im erdbebenzerstörten L'Aquila tagen zu lassen.

Das internationale Netz, das sich immer dichter um die Welt knüpft, spannt denn auch den Bogen wieder zurück zu Rem Koolhaas' "Fundamentals". Denn diese Ausstellung zeigt eben auch, welcher kulturellen Vielfalt sich die Menschheit auf ihrem Weg in die Moderne, sprich in die globale Welt, entledigt hat. Der anfangs weit verzweigte Stammbaum jedes einzelnen Elements - egal ob Fenster, Dach oder Bodenbelag - mündet ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheinbar zwangsläufig in einen uniformen breiten Strang. Die Glasfassade eines Hochhauses in Dubai unterscheidet sich heute nicht mehr von einer in London City. Als Melanie und Mitch bei Hitchcock Bodega Bay verließen, konnten sie vielleicht den Vögeln dort entfliehen, doch andernorts warteten andere auf sie - und die sahen genau so aus.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1989606
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.06.2014/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.