Architektur:Besoffen vor lauter Utopismus

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Wohnt ihr noch oder teilt ihr schon? Als Antwort auf die Wohnungsnot beschwört die Ausstellung "Together!" im Vitra-Design-Museum die neue Architektur der Gemeinschaft.

Von Gerhard Matzig

Am Ende dieser Ausstellung zur Zukunft des Wohnens, die auch als Retrospektive zur Vergangenheit der Wohnträume dient, ist man wie besoffen vor lauter Utopismus und Futurismus. Eine Revolte will man anzetteln. Hungrig ist man nach alternativen Lebensentwürfen. Und sattgesehen hat man sich an den Wohn-Grundrissen, die auch die Möglichkeit eines besseren Lebens umschreiben. Unerhörtes will man tun: Gartenzwerge töten, Jägerzäune einreißen, eine Baugruppe gründen, eine Lebensform erfinden, Flachdächer okkupieren und Visionen leben.

Eigentlich möchte man jetzt von Weil am Rhein heimfahren in sein eigenes schmales Einfamilienhaus, gelegen in jener Münchner Stadtrandlage, die weder Stadt noch Land ist. Was einen aber irgendwie auch nicht daran gehindert hat, sich bis zum Jahr 2078 für den Traum vom Eigenheim zu verschulden. Dann wird man dem Rasenmähen (am Samstagvormittag) ein letztes Lebewohl zurufen und der Sanitärstraße im Baumarkt (am Samstagnachmittag) ein letztes Adieu.

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Vorbilder aus der Vergangenheit, Vorzeigeprojekte aus der Gegenwart - und Visionen für eine neue Offenheit in der Architektur.

Und dann steht der Besucher der großartigen Vitra-Ausstellung "Together" im letzten Raum unter dem Dach vor einem Kickerkasten, einem Brettspiel und vor dem Satz "Die Bewohner und Betreiber der Anlage veranstalten einen Wochenmarkt und fördern so die Beziehung zur Nachbarschaft". Direkt daneben finden im Restaurant des Wohnkollektivs "Veranstaltungen statt, zum Beispiel ein Miso-Kochkurs". Spätestens an dieser Stelle denkt man sich: Ganz so einfach wird es wohl doch nicht werden, das Ding mit dem alternativen Wohnglück. Das WG-Kleingedruckte beinhaltet offensichtlich auch den restauranteigenen Sojabohnenpaste-Kurs und den nachbarschaftsförderlichen Wochenmarkt. Am Glück im Kollektiv könnte einen auch das Kollektiv selbst hindern.

Selten hat man jedenfalls eine Architekturausstellung gesehen, in der man so schnell berauscht und so bald wieder ernüchtert wurde. Selten hat man auch eine derart die Fantasie anregende und gleichzeitig das Existenzielle verhandelnde Schau gesehen. Und selten stand man vor so vielen Lösungen, die mitunter von Problemen kaum zu unterscheiden sind.

Es sind nicht allein Kickerkasten, Brettspiel und Sojabohnen, die davon erzählen, dass die neue Architektur der Gemeinschaft nicht nur vom hehren Ideal der Gemeinschaft handelt, sondern auch von den Niederungen und Leidenswegen der Gemeinschaftsorganisation.

Bis 2030 fehlen der Welt Milliarden Quadratmeter Wohnraum

Dazu ist gleich am Anfang der Schau und im Erdgeschoss des von Frank Gehry entworfenen Museums das eindrucksvolle Bild vom Wohnzimmer auf der Straße zu bewundern. Es stammt aus den Achtzigerjahren und somit aus jener Ära, in der schon einmal der öffentliche Raum als politischer Raum definiert wurde und die "Wohnfrage" als Schicksalsfrage einer Gesellschaft galt. So lange liegt das nicht zurück. Damals zog man auf die Straße samt Couchgarnitur, Beistelltisch und Salzstangen. Samt Kissen und Flyern, die darüber aufklären, dass der öffentliche Stadtraum den Bürgern und vor allem dem Wohnen gehört. Und dass man aus preiswerten Mietshäusern nicht unentwegt teure Eigentumswohnungen wie Karnickel aus dem Hut hervorzaubern kann, ohne dass der Schwindel irgendwann auffliegt in einer Welt, in der das Beheimatetsein und das Wohnen nicht allein Fragen der Rendite sind, sondern zu den Grundlagen der Existenz gehören.

Erst vor zwei oder drei Jahrzehnten skandierten die Hausbesetzer von Hamburg bis Zürich eine Immobilien-Variation der alten 68er-Hippielosung: "Make love, not lofts". Aus dem fernen Vietnamkrieg war der Krieg um das Daheimsein, das Wohnen und die Kaltmiete geworden. Krieg: Das mag martialisch klingen in Zeiten voluminöser Singlewohnungen, in denen der westliche Wohnraumbedarf von der westlichen Adipositas kaum mehr zu unterscheiden ist. Die Wohnungsnot ist dennoch wieder akut.

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:Deutschlands Wohnungen sind zu dunkel

Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der "Initiative gutes Wohnen". Sie fordert mehr und größere Fenster - und hat einen kleinen Haken.

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Erstens global betrachtet, weil der Welt einer Studie zufolge bis zum Jahr 2030 allein durch Bevölkerungswachstum, Migration und Verstädterung Millionen Wohnungen fehlen werden. Zweitens aber sind auch wohlhabende Länder wie Deutschland von dieser Wohnungsnot betroffen, weil hier die Verdichtung der Ballungsräume (während das Land strukturell ausblutet) auf einen entfesselten und globalisierten Immobilienmarkt trifft. Dem Münchner, der dem Amoklauf der Mietpreise machtlos gegenübersteht, nutzt der Hinweis, wonach München im Vergleich zu London oder Paris doch irre billig sei, wenig.

Bei allen utopischen Lösungen - ein Problem bleibt: Wir müssen reden

Der Reiz dieser gelungenen Ausstellung liegt aber nicht in der Feststellung, dass der Wohnraum eine knappe Ressource ist. Sondern darin, dass die Notwendigkeit von quantitativ mehr Wohnraum umgedeutet wird in das Postulat von einem qualitativ ganz anderen Wohnen auf Grundlage der "Ökonomie des Teilens". Dieser "Paradigmenwechsel gesellschaftlicher Werte", so die Kuratoren, "lässt sich auch in der Architektur beobachten. In den letzten Jahren sind immer innovativere gemeinschaftliche Wohnprojekte entstanden, die häufig von Bürgerinitiativen konzipiert und umgesetzt wurden. Wir erleben in gewisser Weise die Rückkehr des Kollektivs in der Architektur". Was zugleich eine Antwort sein könnte auf den demografischen Wandel und die Renaissance der Stadt.

Die Idee eines solch anderen Wohnens jenseits der Einfamilienhausidylle ist so simpel wie bestechend: Wenn es in Wohnanlagen mehr kollektiv nutzbare Räume wie Gästeappartements, Hobbyzimmer oder sogar Schwimmbäder, Dachterrassen und Kleingärten gäbe, könnten die Individualwohnräume wieder ökonomischer entworfen werden. Der wirklich private Raum könnte dann minimiert und mit einem anspruchsvollen modernen Wohnen in Einklang gebracht werden, massenweise sogar, wenn der öffentliche Raum der Gemeinschaft an Bedeutung sowie an Qualität und Quantität zunimmt.

Das gilt auf der Ebene der Wohnung und des Wohnhauses genauso wie auf der Ebene der Stadt: Wenn eine kleine Parkanlage oder das nachbarschaftliche Urbangarteln fußläufig erreichbar sind, wozu dann noch der Garten rund ums Eigenheim?

So ist die Ausstellung ebenfalls in zwei Maßstäben angelegt: dem der Wohnung und jenem der Stadt. Nach einem kurzen historischen Abriss über die Geschichte früher Reformideen und divergenter Siedlungsutopien werden 21 gemeinschaftliche Wohnprojekte der Gegenwart in einem einzigen Saal als begehbares Stadtmodell präsentiert. So entsteht eine fiktive Stadt - zusammengeschraubt aus den Ideen gemeinschaftlich nutzbarer Wohnräume. Es ist faszinierend, durch die großmaßstäblichen Schnittmodelle zu wandern und eine Stadt des Kollektivs zu erleben, die im Gegensatz zum monofunktionalen Wohnungsbau der Moderne auch urban erscheint. Wohnungsbau ist immer auch Städtebau.

In einem zweiten Saal geht es dagegen fast wie im Möbelhaus um begehbare Grundrisse. Gezeigt wird im Maßstab 1:1 eine Clusterwohnung, die es den Bewohnern ermöglicht, "den Wohnalltag gemeinsam mit anderen Menschen zu leben, ohne dabei die Privatsphäre aufzugeben". My home is my castle: Das wird es auch künftig geben - nur wird vielleicht ein Minicastle daraus. Inklusive Kollektivrasenmäher. Die halbtägige Diskussion im utopischen Kollektiv, wer den Mäher wann nutzt und ob das Mulchen nun erlaubt wird, das Vertikutieren aber nicht, gehört jedoch nicht nur zu den Lösungen, sondern auch zu den Problemen. Wir müssen nicht nur über andere Wohn- und Lebensformen nachdenken. Wir müssen reden.

Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft. Vitra -Design -Museum, Weil am Rhein. Bis 10. September. Katalog (Ruby Press) 49 ,90 Euro. www.design-museum.de.

© SZ vom 04.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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