Baukultur:Ächtet die Abrissbirne!

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Die Experimentaleinheit im zweiten Stock funktioniert theoretisch wie ein Komposthaufen, ist aber eine mondäne Wohnung. (Foto: Zooey Braun)
  • Die Bundesstiftung Baukultur veröffentlicht im Bericht "Erbe-Bestand-Zukunft" alarmierende Zahlen zum Neubau-Müll-Desaster der Gegenwart.
  • 86 Prozent der deutschlandweit befragten Kommunen geben an, dass in den letzten Jahren Gebäude aufgrund "schlechter Bausubstanz" abgerissen wurden.
  • Eine Zeitenwende hin zu einer neuen Baukultur drängt sich auf: der Recyclingbauweise.

Von Gerhard Matzig

Das medial mittlerweile bekannte "Haus aus Müll" ist erstens eine smarte, 155 Quadratmeter umfassende und mondän eingerichtete Wohnung. Seit ihrer Vollendung vor einigen Wochen wird sie von zwei jungen Forschern bewohnt. Nordöstlich von Zürich, in Dübendorf, ist diese Wohnung als zweiter Stock einem vier Geschosse aufragenden "Experimentalhaus" auf dem Campus der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) implantiert worden. Und zweitens besteht auch die Wohnung nicht aus alter Dachpappe, Kunststofffensterresten oder irgendwelchen Resten aus der Biotonne, die möglicherweise bald krabbeln.

Der bungalowartig geschichtete Experimentalwohnraum namens "Urban Mining & Recycling" besteht, und exakt darauf besteht man auch im entwurflich zuständigen Stuttgarter Architekturbüro von Werner Sobek (zusammen mit Dirk Hebel und Felix Heisel), aus "Rezyklaten". - "Schreiben Sie bitte bloß nicht Müll!" - Rezyklate also. Das sind wiederverwertete Stoffe aus sogenannten Post-Consumer-Abfällen. Gemeint sind Materialien, welche bereits mindestens einmal nach ihrem Gebrauch im Rahmen eines Haushalts- oder Gewerbeabfalls entsorgt wurden.

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"Dem Entwurf", so das Büro Sobek, "liegt die These zugrunde, dass alle zur Herstellung eines Gebäudes benötigten Ressourcen vollständig wiederverwendbar oder kompostierbar sein müssen. Der Kreislaufgedanke spielt deshalb die zentrale Rolle." Allerdings ohne am Ende wie ein Achtzigerjahre-Jutebeutel auszusehen.

Von unserer Kultur werden einmal Häuser aus, ahem, Müll berichten

Rezyklat. Dieses Wort muss man sich merken. Es ist die Vokabel unserer architektonischen Ära. Denn vor dem Hintergrund des soeben von den Bundesstiftung Baukultur veröffentlichten Berichts "Erbe - Bestand - Zukunft", der alarmierend toxische Zahlen zum Neubau-Müll-Desaster der Gegenwart aufweist, muss man festhalten: Die Gotik hatte ihr wundersames Strebewerk aus Stein; die Moderne lieh sich ihre Magie vom Triumvirat aus Stahl, Glas und Beton; aber die jetzige Epoche muss, wenn man den Baukulturbericht konsequent zu Ende denkt, in die Geschichte eingehen als eine Ära der Rezyklat-Bauweise. Von diesem Dasein und dieser Kultur werden einmal berichten: Häuser aus, ahem, Müll. Der Komposthaufen ist das, was wir der Geschichtsschreibung als zeitgenössische Bautypologie vermachen.

Natürlich kann man das auch grotesk finden. Man stelle sich vor, wie sich unsere Baukultur in die Geschichtsbücher einschreibt ... nach Romanik und den Kathedralen der Gotik, den Prachtbauten der Renaissance und den Barockwunderwerken kamen historistische Stile, dann Bauhaus-Moderne und Postmoderne - und von dem Jahr 2018/2019 an, das ist die Zuordnung des neuen Baukulturberichts, der viel schüchterner tut, als er ist, wurde der "Müllstil" oder auch das Nichtbauen zum prägenden Kennzeichen der Architektur. Aber gut, sprechen wir lieber von Rezyklaten. Oder vom unbehandelten Holz, aus dem das Tragwerk der vorfabrizierten und in Modulbauweise hergestellten Experimentaleinheit in der Schweiz besteht. (Übrigens: Warum gibt es so ein durchdachtes und wegweisendes Experiment nicht in Deutschland? Immerhin ist das deutsche Wort "Baukultur" wie "Kindergarten" oder "Rucksack" gerade dabei, sich im englischen Sprachraum durchzusetzen.)

Im Grunde müsste man ein sofortiges Moratorium am Bau verhängen

Die Recyclingbauweise, die vom Bodenbelag über den Lichtschalter bis zur Deckenleuchte alle Bauelemente umfasst und die Architektur mit der Ökologie versöhnt, ist aber nur die eine Folge des Berichts zur Lage der Baunation Deutschland. Die andere Folge lässt den Paradigmenwechsel sogar noch zeichenhafter erscheinen. Denn im Grunde müsste man ein sofortiges Moratorium am Bau verhängen, einen totalen Baustopp all jener Vorhaben, die sich nicht dem Müllproblem der Welt unterordnen.

Denn, und auch das geht aus dem neuen Baukulturbericht hervor: Es ist nicht so sehr das ungleich prominenter, wenn auch zu Recht beklagte Plastikteil im Meer oder die Dieselschwade in der Luft, wovon die Umwelt und wir selbst bedroht werden - es ist das Bauen, das für mehr als fünfzig Prozent der weltweiten Vermüllung des Planeten verantwortlich ist. So gesehen ist Architektur nicht nur eine der ältesten Künste der Zivilisationsgeschichte, sondern auch Unrat als solcher.

Schon wird in Zeiten fallender Zinsen, günstiger Darlehen und delirierend überschäumender Immobilienmärkte der Beton als knapper Rohstoff gewertet - wie auch der Sand, der zur Betonherstellung gehört. Das Neubauen wird zu einer Ressourcenfrage. Daher ist es eine Schreckensmeldung, wenn 86 Prozent der deutschlandweit befragten Kommunen angeben, dass in den letzten Jahren Gebäude aufgrund "schlechter Bausubstanz" abgerissen wurden. Oder weil man den gestiegenen Energieeffizienz-Normen Rechnung tragen muss. Doch die zuständige Verordnung EnEV, die Energieeinsparverordnung, berücksichtigt närrischerweise nicht die viel gewichtigere "graue Energie", die bereits im Gebäude steckt. Das ist jene Energie, die aufzuwenden ist, um ein Gebäude zu erbauen - vom Material über den Transport bis zur Konstruktion. Häuser verbrauchen die Energie hauptsächlich nicht durch Wärmeabgabe beim Bewohnen - sondern schon durch das Erbautwerden. Mit Blick auf das Drauflosneubauen nach EnEV-Standards, um der Wohnungsmisere beizukommen: Es ist irre, was gerade in einem Land passiert, das eigentlich schon längst zu Ende gebaut ist. Die Abrissbirne müsste man mittlerweile zu jenen Waffen rechnen, die zu ächten sind.

Der Zeitpunkt für ein Umdenken ist günstig. Der Architekt und Denkmalexperte Andreas Hild fordert: "Wir brauchen nicht nur ein Denkmalrecht, sondern ein Umbaurecht!" Daniel Fuhrhop schließlich meint sogar in seiner beachtenswerten Streitschrift: "Verbietet das Bauen!" Und schon längst wurde der Begriff der "Heimat", den man nicht dem rechten Politgeschwätz überlassen darf, rehabilitiert. Heimat aber hat viel mit räumlicher Identität und architektonischer Kontinuität zu tun.

Vielleicht ist das, was wie Retrospektive aussieht, der eigentliche Futurismus

Das Bewahren und der Bestand, das baukulturelle Erbe: Nie zuvor stand das bauliche Gestern so hoch im gesellschaftlichen Kurs wie heute. Der drohende Abriss des Münchner Arabellahauses fällt in sensibilisierte Zeiten. Die zunächst modisch erscheinende, aber letztlich nachhaltige "Kultur der Reparatur" müsste in eben diesem Sinn auch auf Häuser und Städte angewandt werden. Es darf nicht weiter blindwütig abgerissen werden. Das "neue" Bauen muss sich vom Dogma des Neubaus lösen, um aus dem Altbau formale, materielle und konstruktive Inspiration zu ziehen.

Das bauende Selbstverständnis steht im Bauboom vor einer Zeitenwende. Vielleicht markiert das, was vorgeblich retrospektiv erscheint, tatsächlich den wahren Futurismus. Zu allen Zeiten waren das neue Rathaus, das neue Schloss, die neue Kirche und das neue Museum Orte der Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung. Der barocke Kirchenpfeiler, den man früher einfach um gotische Bestände herumgebaut hat (wie man das noch heute beim Dom in Passau besichtigen kann), war Ausdruck eines Glaubens an die Überlegenheit der jeweiligen Zeitgenossenschaft. Gleiches gilt für die mitunter an Insektizidsiedereien erinnernde Flachware der Moderne. Manches Gründerzeit-Haus wurde davon zermalmt. Die identifikatorische Sehnsucht nach formaler und materieller Erneuerung: Das ist seit jeher der Antriebsriemen der Baugeschichte.

Das gilt noch immer, doch jetzt steht das Neue im Dienst des Alten - der Zukunft zuliebe. Das Um- und Anders- oder auch Garnicht-Bauen: Das entspricht unserer Epoche. Weniger ist mehr: Noch nie war diese antiquitätenhafte Sentenz der Moderne so utopisch wie heute.

© SZ vom 09.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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