Architektur:Bauen nach Zahlen

Tristes Haus

Flaubert meinte einst: "Architekten, alles Schwachköpfe. Vergessen immer die Treppen." Oder die Fenster.

(Foto: Frank Dan Hofacker/plainpicture)

Nach vielen verunglückten Projekten ruhen in Deutschland die Hoffnungen auf einer "Baukultur 4.0". Das digital optimierte Planen ist tatsächlich überfällig - allerdings auch kein Allheilmittel.

Von Gerhard Matzig

Manchmal sind Häuser richtig gefährlich. Zum Beispiel der 37 Stockwerk hoch aufragende Turm namens "Walkie-Talkie". Fertiggestellt vor zwei Jahren in London reflektierte die Glasfassade des Hauses derart stark das Sonnenlicht, dass sich die Rückspiegel und Armaturbretter davor abgestellter Autos verformten. Reporter machten sich daraufhin einen Spaß daraus, auf dem Bürgersteig in der Eastcheap Spiegeleier in der Pfanne zu brutzeln - während der Architekt den Klimawandel für das Desaster verantwortlich machte: Früher sei es in London jedenfalls echt nicht so sonnig gewesen.

Deutschland ist nicht gefeit gegen Schildbürgerprojekte aller Art. Im Gegenteil

Solche Fehler bei Bauprojekten - teurer als geplant, später als geplant, fehlerhafter als geplant und sehr viel komischer als geplant - erinnert an die Geschichten aus Schilda. Zur Erinnerung: Die spätmittelalterlichen Erzählungen handeln unter anderem vom Bau eines neuen, pompösen Rathauses. Allerdings vergisst der Architekt die Fenster, weshalb es nun stockfinster ist im neuen Rathaus. Daraufhin versuchen die Schildbürger das Sonnenlicht mit Eimern einzufangen und ins Innere zu tragen. Was leider auch nicht funktioniert. In London hätte so manch stolzer Besitzer eines Jaguar XJ, dessen Stolz auf Rädern nun aussah wie eine geschmolzene Weingummitüte, wohl auch gern das Sonnenlicht wieder beim Bauherrn abgegeben. Eimerweise.

Doch ist Deutschland natürlich nicht gefeit gegen Schildbürgerplanungen, die es auch hierzulande immer öfter gibt. Die Planungs- und Bau-Peinlichkeiten sind ja hinlänglich bekannt: Elbphilharmonie, Stuttgart 21, Willy-Brandt-Flughafen, Pinakothek der Moderne in München, Akademie der Künste in Berlin, ein einstürzender Neubau hier, ein dysfunktionaler Anbau dort - und eine aus dem Ruder gelaufene Baustelle hier wie dort.

All diese Projekte litten oder leiden an höchst unterschiedlichen Krankheitsbildern, doch eines eint sie: In der Mehrzahl der Fälle liegt es nicht am Entwurf (also an den Architekten), sondern eher an einem Mangel an gründlicher Vorplanung, an geradezu launenhaft formulierten Änderungen durch die - zumeist öffentliche - Bauherrenschaft, an intransparenten Kosten und generell an zu wenig Überblick und zu wenig fachgerechter Kommunikation. Denn das Bauwesen wird angesichts neuer Materialmöglichkeiten, Konstruktionsweisen, Nutzerwünsche und baurechtlicher Dauernovellierungen immer komplexer und herausfordernder. Nicht zuletzt ist in der Baukultur der Gegenwart auch ein Defizit an Partizipation festzustellen, also daran, die Bürger rechtzeitig über womöglich umstrittene Bauvorhaben und ihre Folgen zu informieren und an der Planung auch kritisch teilhaben zu lassen.

Deshalb hört sich das Wort vom "Bauen 4.0" nun an wie ein wahres Zauberwort. Wenn es nach Verkehrsminister Alexander Dobrindt (SZ vom 15. Dezember) geht, soll Schilda zumindest in Deutschland schon bald kein Synonym mehr für Bauskandale, sondern wieder einfach nur ein hübscher Ort mit 516 Einwohnern im südlichen Brandenburg sein.

Um das Planen und Bauen effizienter, transparenter und beherrschbarer zu machen, will Dobrindt bis zum Jahr 2020 ein Planungsinstrument namens BIM (Building Information Modeling) zum Standard zunächst bei öffentlichen Infrastrukturprojekten machen. Bewährt es sich, könnte diese Form des intensiviert rechnergestützten Planens und Bauens bahnbrechend sein. Damit werden alle Vorhaben bis auf das kleinste Schräubchen im Computer vorab durchgespielt - sowie auf die Folgen vom Schattenwurf bis zu den nicht "kalkulierten", sondern exakt berechneten Unterhaltskosten hin analysiert. BIM hat insofern das Zeug dazu, die altehrwürdige Baukultur tatsächlich in die digitale Zukunft (die anderswo längst Gegenwart ist) zu führen. Auch deshalb ist es gut, wenn demnächst, am 22. Januar, nun endlich der erste Münchner BIM-Kongress, bei dem auch Dobrindt sprechen wird, stattfindet, um dieses wie selbstverständlich wirkende Planerwerkzeug der digitalen Ära öffentlich zu machen und seine Möglichkeiten auszuloten.

Aber allein daran wird das Bauwesen, das für manche schon ein Bauunwesen ist, nicht genesen. Man muss sich daher klar machen, was das BIM kann - und auch: was es nicht kann. Alles, was rational ist am Bau, das betrifft vor allem die Seite der Ingenieure, kann durch BIM nur besser werden. Insofern bedeutet die vollständige Rechnerunterstützung der Bauplanung und -durchführung sowie -verwaltung nur einen evolutorischen Schritt, der sich dem komplexer gewordenen Bauen auch organisatorisch anpasst. Tatsächlich kann man sich fragen, warum die Bits und Bytes unserer hochtechnologischen Ära bisher nur für irgendwelche spektakulären Formfindungsprozesse (denen ermüdend modische Da-schau-her-Fassaden folgen), nicht aber für die effizientere Durchdringung der Bauprozesse genutzt werden.

Allerdings ist es auch so, und das betrifft nun stärker das Tun der Architekten, dass die Baukultur nicht nur aus dem Bau, sondern auch aus der Kultur besteht. Und die Baukunst eben auch aus der Kunst. Spätestens hier endet der Zauber des Zauberworts BIM, denn das Bauen ist viel mehr als reine Rationalität. Man kann sich sogar fragen, ob es eine Meisterleistung wie die Zeltdachlandschaft des Münchner Olympia-Areals, 1972, je gegeben hätte, hätte man dem Computer die Bauleitung überantwortet. Zwar wären dann die Kosten nicht ins Astronomische gestiegen, sie lagen schließlich bei etwa 1800 Prozent jenseits der Kalkulation der Architekten; die Maschine wäre aber auch zu dem Schluss gekommen, dass der Bau gar nicht realisierbar ist. Computer brauchen Erfahrungswerte. Mit einer Seilnetzkonstruktion in dieser Dimension gab es aber keine Erfahrungen. Niemand wusste, ob so ein Bau in der gegebenen Zeit zu gegebenen Kosten überhaupt eine realistische Annahme darstellt. Es war Mut im Spiel, ein Gefühl, eine Vision. Kurz: eine zutiefst algorithmenfreie Ahnung von etwas, das einfach nur großartig sein könnte.

Ein Computer hätte die Kathedralen der Gotik nicht gebaut

Das gilt auch für die Kathedralen der Gotik oder die Tempel der Antike: Bauen ist immer dort, wo es um unbekanntes Terrain geht, ein Schaffungsprozess in Grenzbereichen. Architektur ist exakt das arithmetische Mittel aus der Rationalität des Materials und der Irrationalität des Immateriellen. Große Architektur besteht nicht nur aus Zahlen und Berechnungen, sondern tatsächlich auch aus Kunst. Wenn das eine aber dem anderen hilft und sich das digitale Planen nach der Dobrindt-Initiative tatsächlich auch endlich in Deutschland etablieren lässt, wo manche Projektleiter noch den Taschenrechner bemühen: Dann kann das Bauen an sich besser werden.

Nur: Ganz ohne Risiko wird Architektur leider nie zu haben sein. Das gilt auch für unsere risikoarme Vollkaskomentalität.

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