Architekturführer Afrika:Einen Schritt weiter

Architekturführer Afrika: So sehen afrikanische Städte aus: Skyline von Kigali in Ruanda.

So sehen afrikanische Städte aus: Skyline von Kigali in Ruanda.

(Foto: Adil Dalbai)

Was ist afrikanische Architektur? Ein monumentaler Band stellt die wichtigsten Bauten des Kontinents vor - und dokumentiert die Debatten, die dort geführt werden.

Von Jörg Häntzschel

Ein Architekturführer über Afrika - das muss ein Scherz sein oder ein vermessenes Kolonialprojekt aus der Mitte der 19. Jahrhunderts. Die Baukultur dieses unübersehbaren, brodelnden Kontinents zwischen Buchdeckel pressen, wie soll das gehen? Dann klingelt es an der Tür, ein acht Kilo schweres Paket trifft ein, und beim Öffnen werden die Dimension des "Architectural Guide Sub-Saharan Africa" nach und nach klar. Sieben Bände hat dieses Werk, 3400 Seiten, es enthält über 5000 Abbildungen, und 350 Autoren haben daran geschrieben - über nicht weniger als 850 Bauten aus 49 afrikanischen Ländern. Ergänzt werden diese Artikel durch 200 Essays zu allen Fragen der Architektur und des Bauens in Afrika. Alle Zweifel hinsichtlich der Legitimität und Ernsthaftigkeit dieses Werks sind verflogen.

Und doch ringen die Herausgeber Philipp Meusser und Adil Dalbai und ihre vielen Autoren den ganzen Einführungsband hindurch mit der Frage, was sie da eigentlich tun. Die Beschränkung auf das Afrika südlich der Sahara ist weitgehend unstrittig. Nordafrikas Architektur ist Teil einer so unterschiedlichen Kultur, dass es wenig Sinn ergäbe, sie gemeinsam mit dem großen Süden Afrikas zu verhandeln.

Erstmals hat Afrika mit David Adjaye sogar einen internationalen Architekturstar

An allem anderem aber zweifeln sie: Lässt sich von "Afrika" überhaupt sprechen, ohne dabei den herabwürdigenden, kleinmachenden Blick der Europäer zu übernehmen? Denkt man mit dem Begriff "Architektur" nicht zwangsläufig in westlichen Vorstellungen vom Bauen, vom Wohnen, von Städten? Könnte, umgekehrt, die Suche nach einer Theorie afrikanischer Architektur, auf der hier viele der Autoren sind, sich weniger als Empowerment, denn als "Identitätsfalle" erweisen, als "Essentialismus", wie Felwine Sarr fragt?

Architekturführer Afrika: Aber auch so: Slum in Liberias Hauptstadt Monrovia.

Aber auch so: Slum in Liberias Hauptstadt Monrovia.

(Foto: Philipp Meuser)

Einerseits werden also, wie man es von Architekturführern gewohnt ist, wichtige und beispielhafte Bauten aus den einzelnen Ländern dargestellt, andererseits debattieren die Autoren, die sich keineswegs immer einig sind, parallel über die Kategorien, Kriterien und Referenzsysteme dieser Darstellungen. Das monumentale Werk dokumentiert nicht nur, was gebaut wurde, sondern diskutiert auch, was gebaut werden könnte und sollte. Meistens ist das äußerst anregend, teils wird es aber auch sehr unübersichtlich. Eine etwas klarere Regie hätte nicht geschadet.

Das Unternehmen kommt genau zur richtigen Zeit. Nie seit den Sechzigerjahren, als ein afrikanischer Staat nach dem anderen die Unabhängigkeit errang, war das kulturelle Selbstbewusstsein in Afrika so groß wie jetzt. Und nie war im Westen das Interesse an Afrika so groß: Die Flüchtlingswelle, die Kolonialismus- und Restitutionsdebatte, Black Lives Matter, die Diskussionen um Teilhabe und Diversität, der Marvel-Blockbuster "Black Panther", aber auch das Gefühl von Stagnation und Verunsicherung, das den Westen ergriffen hat, lassen viele aufmerksamer nach Afrika sehen denn je. Erstmals hat Afrika mit David Adjaye und dem eben als erstem Afrikaner mit dem Pritzker-Preis ausgezeichneten Francis Kéré internationale Architekturstars. Aber, das zeigen die Beiträge hier, es gibt noch viele andere zu entdecken.

Prognosen zufolge werden im Jahr 2100 in Afrika 4,3 Milliarden Menschen leben, dreimal so viele wie heute

Auch das kaum vorstellbare Bevölkerungswachstum macht das Bauen in Afrika zu einem Thema von globaler Dringlichkeit: Während die Bevölkerungszahlen der meisten anderen Kontinente kaum noch steigen werden, sollen laut Prognosen im Jahr 2100 4,3 Milliarden Menschen in Afrika leben, fast dreimal mal so viele wie heute. Und während Afrikas Bevölkerung früher viel gleichmäßiger über das Land verteilt war als in Europa, Amerika oder Asien, konzentriert sie sich immer mehr in den Städten. Alle 15 weltweit am schnellsten wachsenden Städte liegen in Afrika. Lagos allein soll im Jahr 2100 unvorstellbare 88 Millionen Einwohner haben.

Dieser Architekturführer ist also nicht nur Bestandsaufnahme für Architekturinteressierte und Begleiter für Touristen, tatsächliche und solche auf "imaginären Reisen", wie es in der Verlagswerbung munter heißt. Er ist auch ein Krisenbericht und er weist auf ein täglich offensichtlicheres Defizit hin: Um seine Probleme zu lösen, braucht Afrika neue, eigene Ideen für das Bauen, die seinen spezifischen Bedingungen und den Bedürfnissen seiner Bewohner gerecht werden.

Architekturführer Afrika: Museum der Schwarzen Kulturen in Dakar, Senegal: wie viele neue öffentlichen Bauten ein rein chinesisches Projekt.

Museum der Schwarzen Kulturen in Dakar, Senegal: wie viele neue öffentlichen Bauten ein rein chinesisches Projekt.

(Foto: Adil Dalbai)

Afrika hatte diese Baukultur einmal und sie wird hier ebenfalls anschaulich dargestellt, doch seit der Kolonialzeit wurde sie immer mehr verdrängt. Teils durch den Kolonialismus selbst, der den Ländern seine eigene Importarchitektur aufzwang, dann, in der Zeit vor und nach der Unabhängigkeit, durch die meist von europäischen Architekten entworfenen Bauten des "tropischen Modernismus". Und auch jenseits der großen öffentlichen Bauten kopierte man in Afrika viel aus dem Westen, oft gerade das Schlechte: Beton, Plastik, Klimaanlagen.

Zuletzt folgte die Welle aus spektakulären bis grotesken Flughäfen, Bahnhöfen, Stadien und Museen, die vor allem von chinesischen Staatsfirmen in die Landschaft gestellt wurden, oft im Tausch gegen Abbaurechte. Traditionen oder lokale Kontexte spielen dabei keine Rolle, afrikanische Architekten sind nicht beteiligt. Nicht selten fliegt China sogar seine eigenen Bauarbeiter ein. Für die Afrikaner springen weder Jobs noch Know-how heraus, oft sind die Gebäude am Ende unbrauchbar. "Seit der modernen Ära hat afrikanische Architektur uns als Afrikaner nicht wiedergespiegelt", schreibt einer der Autoren.

Architekturführer Afrika: Philipp Meuser, Adil Dalbai (hrsg.): Architectural Guide Sub-Saharan Africa. DOM Publishers, Berlin 2021. 3412 Seiten, 198 Euro.

Philipp Meuser, Adil Dalbai (hrsg.): Architectural Guide Sub-Saharan Africa. DOM Publishers, Berlin 2021. 3412 Seiten, 198 Euro.

Wie eine zeitgenössische afrikanische Architektur aussehen könnte, das ist die große Frage, die alle sieben Bände durchzieht. Zuallererst müsse man aus der Defensive kommen, müsse die Tatsache überwinden, dass ernsthaftes Bauen in Afrika vom Westen immer nur danach befragt werde, inwieweit es helfe, Armut und Krisen zu bewältigen. Aber auch die oberflächliche Feier von Afrika als "Kontinent der Zukunft" helfe nicht weiter. Man müsse tiefer gehen, Bauen anders verstehen als im Westen. Menschen seien die wichtigste Infrastruktur, das Performative, Rituelle, Spirituelle und Soziale müsse als Teil des gebauten Raums verstanden werden. Afrikas animistische, nicht-kartesianische Vorstellungen von der Beziehung des Menschen zur Welt müssten wiederbelebt werden. Das käme dann nicht nur Afrika zugute. Wie der postkoloniale Denker Frantz Fanon schon 1961 sagte: "Wenn wir die Menschheit einen Schritt über das hinaus bringen wollen, was Europa uns gezeigt hat, dass müssen wir erfinden und Entdeckungen machen."

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