Süddeutsche Zeitung

Architekt Ralf Schüler zum 80.:Kolossale Maschinen

Der Architekt Ralf Schüler, der an diesem Dienstag 80 Jahre alt wird, hat Westberlin sein Gesicht gegeben. Heute fühlt er sich missverstanden.

Laura Weissmüller

Marineblau, dunkelrot, knallgelb - der U-Bahnhof Schloßstraße gliche mit seinen geometrischen Formen und starken Farben einer Legoeisenbahn für Kinder, wäre er nicht so düster. Samstagmittag um halb zwölf sind die Bahnsteige fast menschenleer, nur ein einsamer Penner redet leise auf sein Bier ein, während die Lampen an der Rolltreppe funzeliges Licht spenden. Ohne viel Aufwand könnte hier ein Tatort aus den Siebzigern gedreht werden. Die Kulisse steht schon - und findet ein paar Meter weiter oben ihren Höhepunkt: Über den U-Bahnhof streckt sich - ehemals blutorange, heute durch eine temporäre Installation buntgefleckt - der Bierpinsel wie eine geballte Faust gen Himmel. Das Turmrestaurant ist das Wahrzeichen einer Stadt, die es so schon lange nicht mehr gibt.

Feiert sich ein paar Kilometer östlich von hier eine neue Mitte in ihrer sandsteinfarbenen Seligkeit und schwappt über die zentrumsnahen Ostbezirke wie Prenzlauerberg und Friedrichshain seit Jahren eine pastellfarbene Sanierungswelle hinweg, darf im alten Westen der schon lange verpönte Kunststoff noch matt an seinen ehemaligen Siegeszug erinnern und damit an eine Zeit, als Berlin noch Insel war, keine Sabine Christiansen-Runden kannte und auch noch keine herummarodierenden Jugendlichen aus der ganzen Welt, die die Hauptstadt zum Abenteuerspielplatz erklärt haben. Der Bierpinsel, das ist kondensiertes Westberlin in seiner reinsten Ausprägung - genauso wie das ICC, das Internationale Congress Centrum Berlin.

Wie der Chitinpanzer eines monströsen Insekts glänzt seine Aluminiumhaut silbern in der Sonne, umtost von einem nie abreißenden Verkehrsstrom. Würde man es nicht besser wissen, man könnte glauben, die Stadtplaner der sechziger Jahre hätten gewonnen und Berlin in eine autogerechte Stadt verwandelt. Denn das Messezentrum steht seit 1979 eingeklemmt zwischen der Berliner Stadtautobahn und dem Messedamm; wer rein will, kommt am besten mit dem Auto, ansonsten muss er die Unterführung nehmen, um die Berliner Antwort auf Kubricks "2001" zu betreten.

Fensterlos und vollklimatisiert trotzt das ICC dem Verkehr seit drei Jahrzehnten und ist mit seiner Haus-in-Haus-Konstruktion zum Inbegriff einer menschenfeindlichen und megalomanen Maschinenarchitektur geworden. Ein Monster seiner Zeit.

Ralf Schüler nennt das ICC "unser Kind". Der Architekt, der diesen Dienstag 80 Jahre alt wird, hat zusammen mit seiner Frau Ursulina Schüler-Witte das Messezentrum gebaut, genauso wie die U-Bahnstation Schloßstraße und den Bierpinsel. Kein Architekt dürfte damit das Bild von Westberlin so geprägt haben wie er, und trotzdem kennt heute kaum mehr jemand seinen Namen. "Wir werden ja auch systematisch totgeschwiegen", sagt der gebürtige Pankower in seinem Atelier gleich hinter der Berliner Schaubühne.

Er ist enttäuscht von einer Stadt, die einmal sein Arbeitsplatz war - fast alle der 244 realisierten und unrealisierten Bauvorhaben hat er für Westberlin geplant. Jetzt fühlt der Architekt sich verraten: Der Bierpinsel "beschmiert", der U-Bahnhof Schloßstraße "vollständig verkommen" und das ICC erst gerade wieder der Abrissbirne entronnen. Denn was von Herbert von Karajan mit den Philharmonikern und 10000 Gästen als größtes und mit knapp einer Milliarde D-Mark Baukosten bis heute teuerstes Berliner Nachkriegsprojekt am 2. April 1979 feierlich eingeweiht wurde, steht seit den Nuller-Jahren wegen seiner hohen Nebenkosten unter heftiger Kritik.

Erst 2008 hat man sich gegen den Abriss und für eine Sanierung des 320 Meter langen, 80 Meter breiten und 40 Meter hohen Kongresskolosses entschieden. Gleichwohl: Schüler traut dem Frieden nicht. Was von den Postkarten und aus den Abendschauen erst einmal verschwunden ist, hat keine sichere Zukunft - ähnlich wie der Palast der Republik. Fast gleichzeitig sind damals diese gigantischen Bauprojekte aus dem Boden gestampft worden; was das ICC für Westberlin war, das war der Palast der Republik für die gesamte DDR: Selbstversicherung der eigenen Existenz.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum der Architekt sich unverstanden fühlt.

Die Maschinenhaftigkeit des ICCs interpretierte man seit jeher als Hoffnung in die Zukunft, als Ausdruck einer Technikgläubigkeit. "Dieser unsinnige Begriff. Wir sind bis heute nicht verstanden worden", sagt der Baumeister, der seit seinem Studium an der Technischen Universität in Berlin mit Schüler-Witte zusammenarbeitet.

Der Begriff "Technikgläubigkeit" ist für beide zum Reizwort geworden. Die Form des ICCs ergebe sich schlicht aus seiner bauphysikalischen Notwendigkeit. Das sei wie bei einer komplizierten mathematischen Formel, die am Schluss aufgeht. Die "Philosophie passiver Aktivität" nennt Ralf Schüler das, weil er versucht, nachzufühlen, "was denn ein Material wollte, könnte es sich denn selbst formen".

Sein leidenschaftlicher Einsatz von neuen Materialien wie Kunststoff ist von dieser Haltung geprägt, genau so wie von dem Bedürfnis, Technik zu zeigen, um die Funktion der Konstruktion verfolgbar zu machen. Sie zu verbergen, findet Ralf Schüler schlicht verlogen.

Diese Begeisterung für Ingenieursleistungen spiegelt sich auch in Schülers Atelier wider. Die Räume gleichen einem Technikmuseum: Neben Fotos der eigenen Entwürfe gibt es da uralte Telefonapparate und Dutzende Modelle von Automobilen aus den Anfangsjahren, Lokomotiven und Flugzeugen. Kolbendampfmaschinen in natürlicher Größe haben es dem Ehepaar angetan, sind für sie: "wundervolle Skulpturen ingenieuren Geistes".

Über Jahrzehnte sammelten sie ganze Flusstanker, Dampfsägewerke und Lokomotiven, die sie dann eigenhändig auseinanderbauten, neu lackierten und wieder zusammensetzten. Heute steht ihre Sammlung im Deutschen Technikmuseum Berlin, einem der wenigen Museen, das architektonisch ihre Gnade findet.

In den vergangen drei Jahren haben sich die beiden Architekten jetzt akribisch damit beschäftigt, ihr Gesamtwerk aufzuarbeiten, um es diesen Dienstag der Berlinischen Galerie zu stiften. Tausende gezeichnete Plänen und Detailzeichnungen haben sie dafür gesichtet und geordnet. Denn ein Computer stand bis zuletzt nicht im Büro von Ralf Schüler, dafür eine Dampflokomotive neben dem Reißbrett.

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Quelle:
SZ vom 26.10.2010/rus
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