Arbus-Ausstellung in Berlin:Verbeugung vor der Welt

Schonungslose Pionierin: Zu Lebzeiten wurden ihre Bilder kaum gezeigt, doch inzwischen gelten Diane Arbus' Fotografien als Vorbilder für Fotografen-Legenden wie Nan Goldin oder Wolfgang Tillmans. Der Martin-Gropius-Bau würdigt nun ihr Werk.

Catrin Lorch

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(Foto: The Estate of Diane Arbus)

Zu Lebzeiten wurden ihre Fotos nur bei zwei Gruppenausstellungen gezeigt, doch inzwischen stehen Diane Arbus' Fotografien im Zusammenhang nachfolgender Fotografen-Legenden wie Nan Goldin oder Wolfgang Tillmans. Der Martin-Gropius-Bau würdigt die schonungslose Pionierin, in deren besten Bildern es still wird. Jemand mit zwei Köpfen wird etwas wissen, was du nicht weißt. Solche Menschen sind wie jemand in einem Märchen, der dich anhält und dir ein Rätsel aufgibt", hat Diane Arbus einmal gesagt. Es könnte der Grund sein, warum nicht einmal Liliputaner, Schönheitsköniginnen, Transvestiten und Republikaner auf ihren Fotos aussehen wie Freaks, obwohl da noch etwas herausquillt aus ihrer Erscheinung, mehr als Kostüm und Körper ohnehin schon hergeben. Die im Jahr 1923 in New York geborene Fotografien hat in nur 15 Jahren - sie starb 1971 durch Freitod - ein Werk geschaffen, das nicht nur die Geschichte der Fotografie und der Kunst entscheidend beeinflusst hat. Diese Expeditionen haben - auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht - ein Jenseits der Vereinigten Staaten gezeigt, ein entlegenes Land, das wie von einer Fee verzaubert schien, von der man noch nicht wusste: gut oder böse. Identische Zwillinge, Roselle, N.J., 1967

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(Foto: The Estate of Diane Arbus)

Dabei folgte Diane Arbus den Menschen, die sie auf dem Bürgersteig oder am Rand ihrer langen Sommerreisen entdeckte, meist nur bis in ihre Wohnzimmer oder eine Abzweigung weit, bis zu der Wiese, auf der gerade Schulfest oder Veteranentreffen gefeiert wurde. Dort blickten sie dann in die Linse. Wie der Junge in kurzen Trägerhosen mit dem verzerrten Gesicht. In der verkrampften Rechten hält er eine Plastik-Granate, sein Schritt ist angespannt, als sei eine Explosion in seinen Körper gefahren. Diese Ikone hat Arbus fast beiläufig "Child with a Toy Hand Grenade in Central Park, N. Y. C. 1962" genannt, als stünden so aufgeheizte Kinderkörper am Rande eines jeden Spielplatzes. Der Kontaktstreifen verrät in gut einem Dutzend Frames jedoch, dass es eine längere Session war. Dass der Junge gelächelt, gespielt, geplaudert und gedroht hat, mit seinem Spielzeug. Den entscheidenden Moment hat Diane Arbus stets zur Begegnung zu verlängern gesucht. Bis jemand, der im Rollstuhl sitzt, noch kurz eine Monstermaske aus Gummi aufsetzt oder die retardierte Jugendgruppe anfängt zu turnen. Es ist der Besuch der Fotografin, der dort, wo schon so viel sichtbar war, noch mehr enthüllte. Kind mit einer Spielzeuggranate im Central Park, N.Y.C., 1962

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(Foto: The Estate of Diane Arbus)

Arbus: "Alles ist ,Oh' und ,Wunderbar', und ich höre mich selbst sagen 'Wie wundervoll'. Es ist wie bei einem Blind Date. Und ich will nie gehen." Freunde wie Marvin Israel erinnern sich daran, dass für Arbus "das Foto nur Trophäe dieses Events war". Für ihre Lehrerin Lisette Model war Arbus der Unterschied, ihr "Einfluss auf die Leute macht das Bild lebendig". Wer jetzt an der langen Reihe von gut 200 Fotografien, die unter dem Titel "Diane Arbus" unprätentiös im Berliner Martin-Gropius-Bau gehängt sind, steht, dem werden die Motive, die Dekaden lang als "Freakshow" oder "Panoptikum" apostrophiert wurden, gar nicht mehr so schockierend, absurd oder scheußlich vorkommen.  Junger Mann mit Lockenwicklern zu Hause in der West 20th Street, N.Y.C., 1966

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(Foto: The Estate of Diane Arbus)

Fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung entrückt ein nostalgischer Glanz die samtigen Schwarzweiß-Abzüge. Die meisten, die hier Mitte der Sechziger fotografiert wurden, werden nicht mehr da sein - und mit ihnen ist auch diese Welt verloren gegangen, die neugierig in eine Kamera-Linse blickte. Diane Arbus hatte noch nicht damit rechnen können, andere Auftraggeber zu finden als die Macher der Magazine. Sie unterrichtete und ihre monatelangen Expeditionen wie "American Rites, Manners and Customs" oder "Zeremonien unserer Gegenwart" finanzierten Anfang der sechziger Jahre Guggenheim-Stipendien. Zu Lebzeiten wurden die Fotos bei nur zwei Gruppenausstellungen gezeigt. In ihrem Atelier verwahrte Arbus dennoch neben perfekten Abzügen in Schachteln auch Hunderte Schnipsel oder Ausrisse.  Ohne Titel (6) 1970-–71

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(Foto: The Estate of Diane Arbus)

Als es galt, ihr ein Jahr nach dem Tod eine Einzelschau im Museum of Modern Art einzurichten, mussten Freunde erst einmal in der Dunkelkammer Kopien anfertigen. Die Schau sahen dann eine Viertelmillion Besucher, bevor sie auf Tour ging, gleichzeitig wurde Arbus im US-Pavillon der Biennale in Venedig gezeigt, als erste Fotografin überhaupt. Bis in die späten Achtziger dauerte es, bis sich die Kunstwelt mit der Fotografie arrangiert hatte, derweil wurden Arbus-Fotobücher in hohen Auflagen gedruckt. Inzwischen kann man Arbus' Fotografien im Zusammenhang nachfolgender Kunst-Generationen lesen - Nan Goldin oder Wolfgang Tillmans beispielsweise. Oder in Abgrenzung - zu den Typenforschern wie August Sander oder Walker Evans, zu coolen On-the-Road-Essays von Robert Frank, Street Photography. Zu den konzeptuellen Setzungen der Bechers oder eines Ed Ruscha und den jüngsten Dokumentaristen, die derzeit bei Biennalen hoch gehandelt werden. Zwei Damen im Automatenrestaurant, N.Y.C., 1966

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(Foto: The Estate of Diane Arbus)

Was sie von all diesen Vorgängern und Nachfolgern unterscheidet, ist die Unbedingtheit, mit der sie auf ihrem eigenen Voyeurismus und Verismus beharrt. Dass es keine andere Begründung für ein Foto braucht, als dass einem, an einer Ampel, in einem Kaufhaus-Eingang, ein Gesicht auffällt, ein Makel. Aus Sicht der Kunst haben Werbung und Bildjournalismus die Fotografie diskreditiert, wie auch die unendliche Fotomühle der Amateure und die Bildfindemaschine Internet. Doch die Aufnahmen von Diane Arbus sind auch über nachträglichen Zweifel erhaben. Weil niemand von ihr je bloßgestellt wurde. Und weil sie, in ihren Exkursionen, letztlich vor allem neugierig war, auf die eigene Präsenz, die sich im anderen abzeichnet. Es sind jetzt nicht mehr die Liliputaner, Nudisten und Tätowierten, die erstaunen - es ist auch das cremeweich glänzende, noch fast unberührte Antlitz des "Very young baby, N. Y. C. 1968". In Arbus' besten Bildern wird es still. Als wölbe sich alles zurück - Kostüm, Kulisse, Pose - und gönne diesem einen Gesicht seine kurze, unvergessliche Verbeugung vor der Welt. Ein sehr junges Baby, N.Y.C., ca. 1967 "Diane Arbus", bis 23.9. im Martin-Gropius-Bau, Berlin. www.gropiusbau.de

© Süddeutsche Zeitung vom 30.6.2012/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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