Süddeutsche Zeitung

Arabischer Frühling und Internet:Roh wie die Revolution

Lesezeit: 4 min

Das ägyptische Medienkollektiv "Mosireen" hat ein Video-Archiv des Aufstandes auf dem Tahrir-Platz ins Netz gestellt. "858.ma" ist der unzensierte Rückblick auf eine Zeit, die das Regime gern vergessen will.

Von Paul-Anton Krüger

Die Bilder führen den Betrachter zurück auf den Tahrir-Platz. Kairo, der Beginn des Arabischen Frühlings. 18 Tage im Januar 2011, am Ende stand der Sturz des Langzeitdiktators Hosni Mubarak. Manche der Videos sind bekannt, waren im Internet zu sehen auf Youtube, Facebook, Twitter. Zum ersten Mal aber, sieben Jahre nach den Ereignissen, macht nun ein Archiv online ungeschnittene Filmaufnahmen systematisiert in einer Datenbank über das Internet zugänglich, dazu Tausende Fotos und andere Dokumente. Abzurufen sind sie seit Dienstag im Internet unter 858.ma.

Die Zahl steht für die Stunden, die das Material umfasst, knapp 36 Tage, und es soll weiter ausgebaut werden. Das Kürzel "ma" verrät, dass die Seite in Marokko registriert ist. Das sagt eine Menge über den Zustand Ägyptens. Wenn sich die Revolution in der nächsten Woche am 25. Januar jährt, fahren Panzer auf, und die Menschen verkriechen sich eingeschüchtert und desillusioniert. So leer sind die Straßen sonst nur, wenn die Nationalmannschaft um den WM-Einzug spielt.

Offiziell gilt der Arabische Frühling nicht als Befreiung, sondern als Beginn des Chaos

In den Tagen des Umbruchs zeigte das Staatsfernsehen oft leere Straßen: Bilder von Ruhe und Ordnung. Die Demonstranten hielten mit Handyvideos dagegen, die sich über soziale Netzwerke verbreiteten. Auf dem Tahrir-Platz entstand ein Medien-Zelt, und das Kollektiv Mosireen fand sich zusammen, zu Deutsch "Wir sind entschlossen". Die Aktivisten dokumentierten den Aufstand mit Aufnahmen aus allen Landesteilen, filmten die Plakate, die Tränengasschwaden, die Toten in den Leichenhäusern. In jahrelanger Arbeit haben Hunderte von ihnen das Archiv zusammengestellt.

Doch erschien es ihnen offenbar sicherer, die Dokumente, die fast alle Zeitcodierungen tragen und sich chronologisch zuordnen lassen, nicht in Ägypten zu publizieren. Dort gehört die Sperrung von Internetseiten inzwischen zum Alltag. Offiziell wurde die Januar-Revolution längst umgedeutet von einem Moment der Befreiung in den Beginn von Chaos und Anarchie. Erst die Machtergreifung des Militärs 2013, so die Lesart, habe dem ein Ende gesetzt.

Auch dieses Datum wird in der offiziellen Diktion euphemistisch "Revolution" genannt. Es ist der Versuch, den Coup, geführt vom damaligen Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi, mit der Volkserhebung 2011 auf die gleiche Stufe zu stellen, ein Akt kollektiver Notwehr gegen die Muslimbrüder. Im März will Sisi sich als Präsident wiederwählen lassen.

Tatsächlich gingen in den Tagen vor der Absetzung des ersten frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi Millionen Ägypter auf die Straßen, um gegen die Herrschaft der Muslimbruderschaft zu protestieren; die Islamisten hatten das Vakuum nach der Revolution für sich genutzt.

In einer Handreichung zu dem Archiv, die zum Manifest geraten ist, schreiben die 858-Initiatoren, es präsentiere "Tausende Geschichten der Revolte, erzählt aus Hunderten Perspektiven". Sie wollen sie als Instrument gegen die offiziellen Darstellung der "Gegenrevolution" verstanden wissen, als Versuch, die Geschichte dem Griff des Staates zu entreißen. Dieser ist längst weit autoritärer als je unter Mubarak.

Deswegen enden die Aufnahmen auch nicht mit Mubaraks Sturz, sondern dokumentieren auch Übergriffe der Armee auf Demonstranten, Wochen nachdem das Militär den Revolutionären seinen Schutz zugesichert hatte - und die internationalen Fernsehsender da schon weitergezogen waren. Es finden sich Aufnahmen vom Massaker vor der Rabaa-Moschee am 14. August 2013, als Sicherheitskräfte die Protestcamps der Mursi-Anhänger gewaltsam räumten und Hunderte töteten. Es ist der schwarze Fleck des Regimes und wird im öffentlichen Diskurs meist verschwiegen.

Die Aktivisten schreiben jedoch auch, dass ihre Arbeit unmöglich wurde in der Polarisation zwischen Regime und Muslimbrüdern. Es habe Jahre gedauert, die Lähmung nach der Niederlage der Revolution zu überwinden. Ein Weg war die Arbeit an 858.ma. Videos der Sprechchöre zu sehen, mag für viele schmerzhaft gewesen sein, wirkte aber vielleicht auch wie ein Antidot gegen die Angst. Und gegen die Tendenz von Google, Facebook, Youtube, Twitter und Co. - den einstigen Verbündeten der Aufständischen - , Zugänge von Aktivisten zu sperren oder gar zu löschen.

So hatte Twitter das Konto des ägyptischen Bloggers Wael Abbas ohne Begründung und Zeitangabe gesperrt. Abbas hat Preise dafür bekommen, dass er Menschenrechtsverletzungen dokumentierte, etwa Folter-Videos aus einer Polizeistation ins Netz stellte: 250 000 Tweets, Zeugnisse von Polizeigewalt, Demonstrationen, sind nicht mehr zugänglich. Der Protest vieler seiner 350 000 Abonnenten nutzt nichts; das Regime ist höchst erfreut.

Die Echtheit von Videos ist schwer zu prüfen. Oft aber dienen sie als Indizien für Verbrechen

Im Sommer schon ließ Youtube einen neuen Algorithmus auf seine Server los, um dschihadistische Propaganda und anderes Material zu löschen, das gegen Regeln des Videoportals verstieß. Dummerweise löschte die Maschine auch legitime Videos, etwa Aufnahmen der Rechercheplattform Bellingcat - und möglicherweise Tausende Belege für Kriegsverbrechen der Terrormiliz Islamischer Staat und des syrischen Regimes von Baschar al-Assad.

Menschenrechtler kritisierten die Löschungen, auch wenn sie die Pflicht der Internetfirmen anerkennen, gegen Hass-Postings und gewaltverherrlichende Inhalte vorzugehen. Im August erwirkte Julian Nicholls, Ermittler beim Internationalen Strafgerichtshof, einen Haftbefehl gegen den Libyer Mahmoud al-Werfalli, Kommandeur einer Spezialeinheit der Milizen des Kriegsherrn Khalifa Haftar. In mehreren Clips war zu sehen, wie er insgesamt 33 Menschen selbst ermordete oder töten ließ.

Die Echtheit von Fotos und Videos und die Intentionen der Veröffentlichung sind fast immer schwer zu prüfen. Dennoch sind sie wichtige Belege für Verbrechen in verschlossenen Gesellschaften, sind zu wertvollen Quellen geworden für Journalisten und Historiker, zum Material für Künstler und Filmemacher. Der syrische Regisseur Osama Mohammed hat 2014 aus solchem Material den bewegenden Dokumentarfilm "Silvered Water, Syria Self-Portrait" zusammengeschnitten - gefilmt von 1001 Syrern, wie er bei der Premiere sagte. Das Material von 858.ma ist unter Lizenzen von Creative Commons veröffentlicht, frei zur Nutzung. Das ist durchaus als Aufforderung zu verstehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3827918
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.01.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.