Süddeutsche Zeitung

Arabische Literatur:Verlorene Heimat

Syrische Schriftsteller im Exil in London und Berlin: Dima Wannous' "Die Verängstigten" und Nather Henafe Alalis "Raum ohne Fenster".

Von Moritz Baumstieger

Erst einmal eine halbe Xanax. Unter die Zunge damit, so dass sich die Tablette schneller auflöst. Damit der Tranquilizer schneller wirkt, damit die bedrückenden Gefühle schneller verdunsten, so wie es Kamil geraten hat, der Psychiater. Sulaima, eine junge Frau aus Damaskus, macht es nicht anders als viele der Kämpfer an den Fronten, die ihr Heimatland Syrien zerschneiden: Um diesen Krieg auch geistig irgendwie zu überstehen, schluckt sie Psychopharmaka. Während die, die töten, sich oft mit Aufputschmitteln wie Captagon zudröhnen, nimmt Sulaima Tabletten, um sich zu betäuben. Denn nur eines ist im Syrien von heute in noch größerem Überfluss vorhanden als der Tod: die Angst.

Dass die im Roman der Schriftstellerin Dima Wannous eine zentrale Rolle spielt, verrät schon der Titel: "Die Verängstigten" dürfte das bisher anspruchsvollste Werk eines neu entstehenden Genres sein, das bald ein eigenes Regalbrett in Buchhandlungen und Stadtbibliotheken füllen kann: Syrische Exilliteratur, verfasst von jungen Autoren, die in den vergangenen Jahren vor der Katastrophe in ihrer Heimat wegrannten und nun irgendwo in Europa dem verlorenen Zuhause hinterher schreiben.

Dima Wannous, die 1982 geborene Tochter des 1997 verstorbenen Dramatikers Saadallah Wannous, floh erst nach Beirut, später zog sie nach London weiter, wo sie heute wohnt und arbeitet. Erst im Ausland habe sie gemerkt, dass sie ihr Leben lang an einer Depression gelitten habe, sagt sie kürzlich in einem Interview - einer Depression, die große Teile syrische Gesellschaft befallen habe und deren Auslöser auch ohne Psychologie-Studium zu ermitteln ist: die nun schon fast fünfzig Jahre andauernde Diktatur des Assad-Clans.

Während Wannous diesen Ursache/Wirkungszusammenhang in Gesprächen relativ direkt benennt, geht sie in "Die Verängstigten" deutlich komplexer vor: Die Xanax-schluckende Sulaima lernt in den frühen Tagen des Arabischen Frühlings den Arzt und Schriftsteller Nassim kennen - im Wartezimmer des Psychiaters, Angststörungen sind im Damaskus von Dima Wannous so weit verbreitet wie wohl Erkältungen in ihrer neuen Heimat London. Mit dem von Schreibkrisen und Kommunikationsstörungen geplagten Mann entwickelt Sulaima eine Liebesbeziehung, die jäh endet. Nassim flüchtet sich ins Ausland, als die Ahnung eines Arabischen Frühling in Syrien in einem tiefsten Bürgerkriegswinter mündet.

In der leeren Wohnung des Gegangenen findet Sulaima ein Romanfragment, dessen Hauptfigur Salma nicht nur fast den selben Namen wie sie trägt. Die Biografien der beiden Frauen sind sich auch in vielen Aspekten ähnlich, die Männer, die in ihnen vorkommen, sind entweder tot oder gerade am Sterben, wenn sie körperlich noch fit sind, sind sie mental schwach, gebrochen oder feige. In anderen Punkten gehen die Geschichten der beiden Frauen auseinander. Während Sulaima, die Hauptfigur des Romans von Wannous Sunnitin ist, ist Salma, die Hauptfigur des Romans von Wannous' Romanfigur Nassim Alawitin - also Mitglied derselben Minderheit wie der Assad-Clan.

Diese Anlage bietet Wannous die Möglichkeit, sich historische Schlenker und Ausflüge in die verschiedensten Milieus der syrischen Gesellschaft zu erlauben, wenn sie die beiden Frauen als Einzelfiguren betrachtet - und dennoch letztlich von der Diktatur als Kollektiverfahrung eines Volkes erzählen zu können, wenn sie deren Schicksale verwebt. Dieser Aufbau verlangt dem Leser Aufmerksamkeit ab, macht eine nuancierte Darstellung der syrischen Tragödie aber vielleicht erst möglich. Ihre Protagonistin jedenfalls lässt Wannous einen Satz über das Roman-Fragment ihres verschwundenen Liebhabers sagen, der vielleicht auch für "Die Verängstigten" selbst gilt: "Mir ist der Ton seines Romans aufgefallen", bemerkt Sulaima. Es seien Tagebucheinträge, verfasst in einem einmal mehr, einmal weniger saloppen Reportagestil. "Als hätte er aus Unfähigkeit, einen Roman über die Revolution zu schreiben, die Form eines Tagebuchs gewählt, um dieses Unvermögen vor sich selbst zu rechtfertigen".

Wie schwer es wohl ist, Geschichte, die gerade erst geschrieben wird, auf eine vielschichtige Weise aufzuschreiben, zeigt etwa der Vergleich mit einem anderen Roman, der jetzt neben dem von Wannous im neuen Regalbrett für syrische Exilliteratur zu stehen kommen wird. Der 1989 in Ostsyrien geborene und nun in Berlin lebende Nather Henafe Alali erzählt in "Raum ohne Fenster" die Kriegs- und Fluchterfahrung zweier junger Menschen aus Damaskus.

Hayat, Mitte 20, verliert in einem von Assads Truppen belagerten Rebellenviertel ihren Mann Salim im Granatenhagel, als sie mit dem zweiten Kind schwanger ist. Und obwohl Salim ein Verlassen der Heimat immer als Verrat gebrandmarkt hat, entschließt sich Hayat, den unsicheren Weg nach Europa anzutreten. Auf dem trifft sie schließlich Aziz wieder, den besten Freund, der ihren sterbenden Mann zu einer Ambulanz geschleppt hat, ihn dann aber dort zurücklassen musste.

Alali, der in Syrien einst Zahnmedizin studierte, vom Regime verhaftet wurde und von seiner Familie wieder freigekauft werden musste, hat wie Wannous wohl einiges Selbsterlebte in dem Roman eingearbeitet - etwa Geschichten von Verhaftungen und Folter. Und er beginnt seine Adaption der syrischen Tragödie am selben Punkt wie Wannous - der Angst: "Die Rückständigkeit unserer Gesellschaft rührt von dieser Obrigkeitsangst her, von der sie infiziert war", sagt Aziz zu seinem da noch lebenden Freund, als beide noch von revolutionärer Hoffnung erfüllt sind und über die Generationen vor sich sprechen, die von der Diktatur gebrochen wurden. "Sind wir nicht Opfer ihrer Angst, Salim?" In der Folge breitet Alali zwei Kriegsschicksale aus, die einerseits von einzigartiger Grausamkeit sind, die andererseits aber Hunderttausende Syrer in den vergangenen Jahren durchleben mussten: Bomben- und Belagerungskrieg, Flucht in andere Landesteile, der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer, nur um dann zunächst im Matsch an einem Grenzübergang auf dem Balkan hängen zu bleiben und dann in der deutschen Asylbürokratie.

Die Schilderung Alalis ist in ihrer Drastik oft beklemmend, auch wenn einige Wortstanzen, die sich die deutsche Übersetzung eingeschlichen haben, dem Text an manchen Stellen die Kraft nehmen. In seiner Linearität verpasst "Raum ohne Fenster" aber viele der Chancen, die der Roman "Die Verängstigten" genutzt hat: Während Dima Wannous die syrische Gesellschaft seziert und die oft widersprüchlichen Beziehungen zwischen Tätern und Opfern in ein und denselben Familien ausleuchtet, ist die Frage nach Gut und Böse bei Alali eindeutig entschieden. Einer Geschichte aus der Perspektive von jungen Menschen aus Rebellengebieten ist das kaum vorzuwerfen, für Ambivalenzen ist wenig Platz im Alltag von Menschen, gegen die eine Diktatur einen Vernichtungskrieg führt. Doch gerade, weil Wannous einen weniger direkten Zugang zum selben Thema gewählt hat, scheint sie tiefer in deren Kern eindringen zu können: die Angst, gegen die irgendwann nicht einmal mehr ein ganzes Xanax hilft.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4153065
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.10.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.