"Aquarela" im Kino:Gurgeln, schäumen, knallen

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Als hätte das Element Wasser einen Film über sich selbst bestellt: "Aquarela" von Viktor Kossakovsky ist ein wuchtiges sinnliches Erlebnis, in dem Menschen nicht so wichtig sind.

Von Martina Knoben

Fast könnte man das Ganze für einen Spaß halten. Männer laufen auf einem zugefrorenen See herum, sie schlittern auf dem Eis, einer bricht mit dem Fuß ein, später ein zweiter. Die anderen lachen über ihr Missgeschick. Langsam aber wird klar, was das für eine Apparatur ist, die sie aufbauen, wozu die Winde dient.

Die Männer versuchen, ein im See versunkenes Auto wieder an die Oberfläche zu holen. Es ist eine beklemmende Szene. Die noch beklemmender wird, als in der Ferne ein Auto näher kommt. "Stopp", schreit einer, "wieso fahrt ihr hier noch lang? Das Eis schmilzt schon." - "Normalerweise", sagt ein anderer, "schmilzt es drei Wochen später." Dann saust ein weiteres Auto heran und bricht vor laufender Kamera ein. Zwei Insassen stehen durchnässt auf dem Eis; ein dritter hat es nicht mehr rechtzeitig aus dem Wagen geschafft.

Ein besseres Bild für den Untergang der Zivilisation durch den Klimawandel kann es kaum geben. Dabei wirkt der Film seltsam ungerührt. Victor Kossakovsky will in "Aquarela" weder trauern noch predigen. Er habe dem Wasser eine Stimme geben wollen, sagt der russische Regisseur. Das ist auf überwältigende Weise gelungen. Hätte das Element selbst ein Porträt von sich in Auftrag geben können, es sähe womöglich aus wie "Aquarela".

Einen Kommentar oder auch nur Erklärungen gibt es nicht in diesem Dokumentarfilm. Warum sollte es auch wichtig sein, wo eine Szene gedreht wurde? Wasser ist schließlich überall. Vom See, es ist der Baikalsee, aber das ist wie gesagt unbedeutend, führt die Reise ins ewige Eis. Brocken in Wohnblockgröße brechen ab, sinken ins Meer und tauchen als riesige Eisberge wie aus dem Nichts wieder aus dem Meer auf. Hier will man kein Schiffchen sein. Und doch schwimmt eines zwischen den weißen Bergen.

Wenn irgendwo Menschen auftauchen im Film, wirken sie klein und gefährdet. Mitleid hat Kossakovsky anscheinend nicht mit ihnen. "Aquarela" wurde mit der ungewöhnlichen Frequenz von 96 Bildern pro Sekunde gedreht, normal sind 24 oder 25. Das macht spektakuläre Aufnahmen möglich und sei wichtig gewesen, erklärt der Regisseur, "weil das Wasser fortlaufend ist". Er fotografiert seine Filme meist selbst (etwa "Vivan las Antipodas!"), für "Aquarela" führten er und Ben Bernhard die Kamera. "Die 96 Bilder pro Sekunde ermöglichen es, einen einzelnen Regentropfen auf eine unübersehbare Weise einzufangen ... In 96 Bildern pro Sekunde kann man die Kamera wenige Zentimeter vor einer Eisschicht platzieren, sie extrem schnell bewegen, und es wird sich weder holprig anfühlen, noch wird Flackern zu sehen sein. Stattdessen werden die Zuschauer das Gefühl haben, als würden sie hoch über dem Eis fliegen." Es sind diese Bilder, die Kossakovsky faszinieren, jenseits von politischen Strategien, von Vorwürfen und Verantwortung.

Als Naturerzählung ist das ungefähr so nett und gefällig wie die Offenbarung des Johannes

Der Film folgt dem Wasser in seine Aggregatzustände, vom Eis auf die hohe See. Wellen prügeln eine Yacht. Da ist kein Horizont, im nächtlichen Wogen gibt es keinen festen Punkt. Das Wasser ist zum Fürchten schön. "Aquarela" ist Überwältigungskino, der Film ein unmittelbar körperliches Erlebnis, der Adrenalinausstoß macht jedem Blockbuster Konkurrenz. Das liegt auch am Soundtrack, der fast unerträglich intensiv ist. Da hat ein Mischmeister seine Pegel kräftig hochgedreht. Es gurgelt und schäumt, Wellen brechen, rollen oder knallen, dazu pfeift oder brüllt der Wind. Das Holz der Yacht knarzt, als würde sie gleich auseinanderbrechen. Dann fällt Graupel auf die aufgewühlte See, ein leiser Moment. Das entzieht sich der Analyse, ist Bild und Klang und Rhythmus, ganz sinnlich. Das Geräusch des Graupels geht fast unmerklich über in die Musik des finnischen Komponisten und Cellisten Eicca Toppinen und seines Quartetts Apocalyptic a, die den Film begleitet. Symphonischer Heavy Metal ist das, rau und heftig und sehr aufwühlend.

Als Naturerzählung ist "Aquarela" ungefähr so nett und gefällig wie die Offenbarung des Johannes. Wenn eine Monsterwelle in Zeitlupe niedergeht mit brechendem Kamm, meint man Gott ins Angesicht zu sehen. Und ist nicht auch die Perspektive oberhalb des Mastes der Yacht auf das Meer ein quasi göttlicher Blick?

Der Kreislauf des Wassers führt den Film schließlich nach Florida, wo ein Hurrikan die Straßen entvölkert, Palmen geknickt und den Friedhof unter Wasser gesetzt hat. Vögel waten zwischen den Grabsteinen und schnappen nach Fischen. So wird das aussehen, wenn der Mensch einmal nicht mehr ist. Für die Sakralisierung der Natur, vor allem aber für die Teilnahmslosigkeit, mit der er auf die Menschen blickt, ist Kossakovsky heftig kritisiert worden. Aber seine Perspektive, die von "Wasser", ist natürlich fiktiv. Geredet und aufgeklärt über den Klimawandel wurde außerdem schon viel. "Aquarela" muss nicht noch weiter erklären oder argumentieren. Der Film ist eine Attacke auf unser Angstzentrum: damit wir endlich fühlen, was wir angesichts der Fakten längst empfinden sollten.

Aquarela , GB/D/Dänemark, USA 2018 - Regie: Victor Kossakovsky. Buch: V. Kossakovsky, Aimara Reques. Kamera: Ben Bernhard, V. Kossakovsky. Schnitt: V. Kossakovsky, Molly Malene Stensgaard, Ainara Vera. Musik: Eicca Toppinen. Verleih: Neue Visionen, 90 Minuten.

© SZ vom 12.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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