Apples neuer Streamingdienst:Piraten der Liebe

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Pharrell Williams hat den Song zum Start von Beats 1 geliefert. Er wird mit Sicherheit zum Hit. Hören kann man ihn vorerst aber nur, wenn man ein Update des Apple-Betriebssystems herunterlädt. (Foto: dpa)

Der Habitus ist rebellisch, doch gespielt wird vor allem Musik wie die von Pharrel Williams: Wie Apple mit seinem Radiosender "Beats 1" die Coolness der Pop-Historie abgreift - und der Hörer dadurch immer gläserner wird.

Von Jan Kedves

Bevor es losging, wurde Brian Enos "Ambient 1: Music for Airports" gespielt, und als Zane Lowe, der Chefmoderator von "Beats 1", am Dienstag um 18:00 Uhr mitteleuropäischer Zeit in seinem nagelneu eingerichteten Studio in L.A. zum ersten Mal den Mikrofonregler hochzog, konnte er nicht häufig genug betonen, dass der Sender von nun an "always on" sein wird - immer auf Sendung. So lautet der Claim von Beats 1, und er klingt fast wie eine Drohung: Apple will auch noch das Ende aller Zeiten und der Welt beschallen.

Das passt zu Apple. Auch das vermeintlich veraltete Format des Radios passt weit besser zu dem Unternehmen, als man meinen möchte. Apple vermarktet sich schon lange als geschmackssichere Alternative zum geschmacklosen Mainstream, es will die verlässliche Anlaufstelle sein für die etwas Kreativeren, Stilbewussteren, Anspruchsvolleren.

"Think different" - "Denk anders", dieser an Pop und seinen Differenzierungsstrategien geschulte Slogan aus den 80er-Jahren hallt also bis heute nach.

Mit dem Beats-1-Radio setzt das Unternehmen genau an diesem Punkt an: bei der Image-Differenzierung und Geschmacksbildung. Die bereits etablierten Streamingdienste - etwa Spotify - bedienen eine eher unspezifische Masse, indem sie so viele Millionen Musikfiles wie möglich anbieten und sie mit Algorithmen ein bisschen nach Genres vorsortieren.

Das tut Apple mit seinem am Dienstag parallel gestarteten Streamingdienst "Apple Music" auch. Doch es überlässt die Nutzer nicht einfach nur sich selbst, sondern bietet ihnen mit dem rund um die Uhr moderierten Radio Hilfestellung beim Sich-cool-Fühlen.

Das Programm sei, so Apple, "handpicked by people who live and breathe music" - sorgsam ausgewählt von Leuten, die Musik über alles lieben. Echte Menschen!

Apple will mit Beats 1 eine Fortführung des alten Piratenradios sein

Noch. Man stellt sich die Typen vor, die früher in Plattenläden hinter dem Tresen saßen und einem, wenn man eine Frage stellte, ihr cooles Wissen mit dem kalten Hauch der selbstgedrehten Zigarette ins Gesicht bliesen. Man mochte sie dafür.

Apple will mit Beats 1 also - stärker noch als vorher mit iTunes und iPod - die globale Repräsentanz des alten kleinen Plattenladens sein, vor allem aber betrachtet sich Beats 1 auch als Fortführung des alten Piratenradios.

Jimmy Iovine, einer der Gründer der von Apple akquirierten Kopfhörerfirma Beats (die den Namen für die Radiostation geliefert hat), sagte genau das in einem Interview: Als Vorbild diene der erste britische Piratensender Radio Caroline, ein Fischkutter, der am Ostersonntag 1964 von der Irischen See aus, dreieinhalb Seemeilen vom Festland entfernt, den Sendebetrieb aufnahm und all das spielte, was bei der BBC damals nicht lief. Die sendete damals nur zwei Stunden Pop pro Woche und füllte diese Zeit mit Material der größten Plattenfirmen.

Das von radikalen Typen gemachte, obskure Platten preisende pirate radio ist seitdem in den Mythenkatalog der Popkultur eingegangen. Legendär: Kiss FM aus Südlondon - eine heute legalisierte Station, die, seit 1985 direkt aus dem Herzen der Londoner Subkultur heraus sendend, Hip-Hop und elektronischer Musik zum Durchbruch verhalf und in Musikproduktionen zurückwirkte. Man denke etwa an das Album "Original Pirate Material" von Mike Skinners Projekt The Streets (2002).

Doch: Zu Jimmy Iovines Verweis auf Radio Caroline passt die Nachricht überhaupt nicht , dass die Musik, die am Dienstag in den ersten sieben Stunden von Beats 1 gespielt wurde, zu 58 Prozent von den Major-Labels Universal, Warner und Sony stammte.

Man könnte das vampiristisch nennen. Oder darauf hinweisen, dass es nicht ganz ohne Ironie ist, wenn Apple - das mit seinem einfach zu nutzenden Download-Shop iTunes dafür sorgte, digitale Musikpiraterie einzuschränken - nun selbst zum Piraten wird. Pirat des Piraten-Mythos.

Nein, Beats 1 ist nicht schlecht. Zane Lowe, der 1973 in Neuseeland geborene Haupt-DJ - er moderierte bis März bei BBC Radio 1 und wurde dort aufgrund seiner auf Augenhöhe geführten Interviews mit Stars wie Kanye West selber zum Star - vermittelt, wie auch die anderen Beats-1-Moderatoren, seine Begeisterung für Musik glaubhaft.

Und ja, es kommt zu Kontextualisierungen und Brüchen, die Stimmungsalgorithmen so wohl noch nicht errechnen könnten: Beispielsweise wurde am Mittwoch in einer Sendung mit Hip-Hop-Fokus unmittelbar nach dem Hit "Otis" von Kanye West & Jay-Z jener Song gespielt, der "Otis" in Form von Samples dominiert: "Try a Little Tenderness" von Gospel-Crooner Otis Redding (1966). Oder: Mitten hinein in eine Strecke aus flotten Dance-Tracks platzierte eine Moderatorin einen "Headphone Moment" - einen sentimentalen Gitarrensong für all diejenigen, die sich für ein paar Minuten in ihren Kopfhörer einkuscheln wollen.

Wissen, für das sich die Plattenfirmen interessieren werden

Wenn sich unmittelbar nach diesem Moment 50 000 Hörer aus der Sendung ausklinkten, um denselben Song bei Apple Music noch einmal als Stream einzeln anzuwählen, weiß Apple nun, dass soundso viel Prozent seiner Hörer gerade in einem depressiven Tief hängen. Wichtige Informationen für die zukünftige Programmierung!

Tatsächlich hat sich Apple mit Beats 1 auch einen weiteren Feedback-Kanal geschaffen. Durch den nahtlosen Übergang vom durchlaufenden Radioprogramm zum On-Demand-Bereich lässt sich viel genauer als früher - beim Abgleich von Radioplays und Chartplatzierungen - verstehen, warum Leute etwas hören wollen und wie sie sich dazu motivieren lassen. Für dieses Wissen werden sich Plattenfirmen interessieren.

Pharrell Williams hat den Song zum Start von Beats 1 geliefert. Er heißt "Freedom", wurde in dieser Woche rauf und runter gespielt und wird mit Sicherheit zum Hit. Hören kann man ihn freilich vorerst nur, wenn man ein Update des Apple-Betriebssystems herunterlädt. Frei ist das nicht. Aber es hört sich gut an. Und macht ein bisschen Angst.

© SZ vom 03.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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