Netzkolumne:Orwellness

Für die einen ist es Selbstermächtigung, für die anderen Repression: Nach Puls und Blutdruck überwachen neue Gadgets nun auch den Seelenzustand ihrer Benützer.

Von Michael Moorstedt

Es waren nicht die neuen iPhones oder die anderen schicken Geräte, die Apple vorletzte Woche präsentierte, die dem Unternehmen die meiste Aufmerksamkeit einbrachten. Sondern die Ankündigung, dass die Gadgets vielleicht schon bald Depressionen, Angststörungen, Autismus oder Anzeichen beginnender Demenz diagnostizieren können.

Ganz neu ist das nicht. Egal, ob Amazon, Google, Microsoft oder Facebook: Fast jeder Tech-Konzern hat an Projekten zur Erkennung der Gefühlslage seiner Nutzer gearbeitet oder Hardware zu diesem Zweck bereits auf den Markt gebracht. Zuletzt war es Amazon, das ein Armband namens Halo veröffentlichte, das seinen Trägern tiefere Einsichten in die eigenen Befindlichkeiten offenbaren soll. Unterschiedlich sind nur die Formen dieser Geräte: Mal ist es eine Uhr, mal ein Amulett oder ein Ring. Und die Analysen werden immer intimer. Wurden am Anfang nur Puls, Temperatur und vielleicht noch der Blutdruck gemessen, werden diese Daten heute auch immer häufiger interpretiert.

Bald also auch Apple. Das Unternehmen bemüht sich um den Anschein von Wissenschaftlichkeit durch die Kooperation mit der University of California und verspricht, es werde alle anfallenden Daten auf den Geräten selbst verarbeiten, ein Austausch mit den Apple-Servern finde nicht statt. Es ist davon auszugehen, dass überzeugte Fans der Firma mit Freuden zugreifen werden, sobald die Technologie auf dem Markt ist.

Luxury Surveillance, Luxusüberwachung, nennt dieses Phänomen der US-amerikanische Algorithmenkritiker Chris Gilliard. Während die einen Hunderte von Euros bezahlen, um überwacht zu werden und sich dabei auch noch gut fühlen, ist es für die anderen ein Instrument der Kontrolle, um das loszuwerden sie wohl ebenso Hunderte von Euros bezahlen würden - aber diese Wahl überhaupt nicht haben.

Eine Apple Watch ist letztlich nichts anderes als eine elektronische Fußfessel

Amazon hat eine smarte Überwachungskamera namens Ring im Angebot, die von Fahrern geliefert wird, die während der Arbeit von KI-getriebenen Überwachungskameras gefilmt werden. In einem weiteren Beispiel, so Gilliard, unterscheide eine Apple Watch im Wesentlichen nur die Form von einer elektronischen Fußfessel. Der Funktionsumfang ist ähnlich, und auch der Zweck der Geräte sei der gleiche: Daten extrahieren, die dann verarbeitet werden, um das Verhalten ihrer Träger zu überwachen oder vorherzusagen.

Nur bestimmte Menschen können sich Luxusüberwachung leisten, aber das ist nicht unbedingt eine Frage des Geldes: Im Allgemeinen sehen sich die Konsumenten von Luxusüberwachung als mächtig und souverän und vielleicht sogar als immun gegen unerwünschte Überwachung und Kontrolle. Für sie sind Selbstquantifizierung und Gesundheitstracking keine Mittel zur Disziplinierung oder Zwang, sondern eine Art von Fürsorge oder gar Ermächtigung. Neben der Verfügbarkeit von Kapital bestimmen auch andere Fragen über die Perspektive: Nach Chris Gilliard sind es vor allem ohnehin schon marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die unter der Anwendung dessen leiden, wofür andere vor den Apple Stores in langen Schlangen stehen.

Was sagt diese Janusköpfigkeit der Technologie über unsere Gesellschaft aus? Die Hardware ist nur ein sehr spezieller, aber auch enorm offensichtlicher Beweis für ein soziales Ungleichgewicht: Was für den einen digitale Wellness bedeutet, wirkt auf den anderen wie Orwell.

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