Apple-Software "Passbook":Weltwissen in der Matrix

Immer mehr Software folgt einem Plan des frühen 20. Jahrhunderts - dem Versuch, das gesamte Universum zu katalogisieren, um es dem Wissensbedürftigen zugänglich zu machen. Der kommerziell unmittelbar nütztliche Effekt scheint auf der Hand zu liegen - doch ganz so einfach ist die Sache nicht.

Thomas Steinfeld

Als Tim Cook, der geschäftsführende Vorstand der Firma Apple, am Montag die Vorstellung neuer Geräte und Programme beendete, entließ er das Publikum, lauter Software-Entwickler, mit den Worten: "Unsere Produkte können, kombiniert mit Ihren Apps, die Welt von Grund auf verändern." Der Satz war eine Untertreibung. Denn auf der Konferenz in San Francisco war ein "App" vorgestellt worden, das - wie gegenwärtig immer mehr solcher Programme - auf eine Art universalen Registers zielt.

Scott Forstall

Flugtickets, Kinokarten, Mitgliedsausweise - die App "Passbook" ist ein weiterer Schritt zum "beweglichen Weltwissen in gleichgeschnittenem Einheitsformat".

(Foto: AP)

"Passbook" wird dieses Programm heißen, das man in ein paar Monaten nutzen können soll. Es speichert Eintrittskarten und Tickets für die Bahn oder Flugzeug, Rabattkarten und Mitgliederausweise, und zwar so, dass sie in dem Augenblick auf dem Bildschirm aufleuchten, in dem man vor der dazugehörigen Kinokasse oder vor dem passenden Abfertigungsschalter steht. Bei Flugkarten soll es sogar einen Hinweis geben, wenn sich das Abflug-Gate ändert.

Firmen wie Apple neigen dazu, als Herolde der Zukunft aufzutreten, und alles Neue, das sie anbieten, als das Unerhörte, nie Dagewesene zu verkaufen. Die Apps aber, die nun dem Publikum vorgestellt werden, haben in den Projekten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts eine große, wenn auch in Vergessenheit geratene Vorgeschichte: die Idee der "Weltregistratur".

Es ist der Plan, das gesamte Universum zu katalogisieren und, in handlicher Form verzettelt, mit Schlagworten versehen und geordnet, den Wissensbedürftigen zugänglich zu machen. "Bewegliches Weltwissen im gleichgeschnittenen Einheitsformat" nennt das der Kulturhistoriker Markus Krajewski, der vor ein paar Jahren das maßgebliche Buch über die universalen Kataloge der Zeit um 1900 schrieb ("Restlosigkeit", S. Fischer Verlag 2006), die nach dieser Art gespeicherten Kenntnisse.

Papier als Grundform aller Kultur

Von solchen Unternehmungen gab es mehrere, vor allem in Deutschland. Keiner brachte es darin weiter als Wilhelm Ostwald, Professor für Chemie an der Universität Leipzig und Nobelpreisträger des Jahres 1909.

In Analogie zum Periodensystem der Elemente, beflügelt von einem "energetischen Imperativ", demzufolge alle Energie zu verwerten sei, arbeitete er in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg an einer radikalen Standardisierung alles je Gedachten und Gemachten, deren Zentrum ein "Institut zur Organisation der geistigen Arbeit" mit Sitz in München hätte werden sollen.

Es wurde damals nichts aus dem Plan, auch wenn eines der damit verbundenen Projekte Wilhelm Ostwalds, nämlich das vor hundert Jahren entworfene "Weltformat", die endgültige und alle andere Formate ausschließende Normierung der Papierformate, zur Schaffung des DIN-Standards führte. Sein Institut musste im Herbst 1913 dem Konkursverwalter übergeben werden. Eine solche "Weltregistratur" aber erlebte am Montag dieser Woche ihr Update im frühen 21. Jahrhundert.

Das Papierblatt hatte Wilhelm Ostwald zur "Grundform aller Kultur" erheben wollen. Doch war die Vision größer als die materiellen Möglichkeiten: Ein Blatt Papier ist bei weitem nicht beweglich genug, um die Grundlage einer "Weltregistratur" abzugeben, die nicht nur eine Welt speichert, sondern sich auch von einer Welt benutzen lässt.

Aber das war nur die eine Seite des Problems, auf das Wilhelm Ostwald und seine Mitarbeiter im Laufe ihrer Arbeit stießen. Wenn sie nach drei Jahren, nach großen Mühen und um ein Vermögen ärmer, vor den Ruinen ihres Instituts standen und von einer katalogisierten "Welt" kaum mehr in der Hand hielten als eine Sammlung der Ansichtskarten, die je vom mittelfränkischen Städtchen Ansbach gemacht worden waren, lag das auch daran, dass die Welt noch nicht das Format angenommen hatte, in dem man mit Weltformaten etwas hätte ausrichten lassen.

Auch sie war nicht beweglich genug, und auch wenn Wilhelm Ostwald immer wieder darauf insistierte, dem "gewissenhaften Berichte eines Armenhauses" sei in der künftigen "Weltregistratur" derselbe Platz einzuräumen "wie den Werken Homers oder Kants".

Gegenstände und ihre Abbilder

Als Voraussetzung für die modernen Weltregistraturen, von der universalen virtuellen Bibliothek über das Verzeichnis aller "Starbucks"-Cafés auf dem Globus bis hin zur Repräsentanz eines großen Teils der Menschheit auf "Facebook" gilt die Digitalisierung als die elektronische Verwandlung beliebiger Gegenstände, unabhängig von ihrem jeweiligen Inhalt, in eine Matrix ihrer selbst: Alles und jedes existiert darin zweimal, als Gegenstand und als Abbild dieses Gegenstands.

Doch das reine Vorhandensein als digitale Dopplung reicht nicht aus, wenn die Weltregistratur tatsächlich funktionieren soll. Die Gegenstände müssen aus eigenem Antrieb in die Registratur drängen. Sie müssen sich darin gespiegelt sehen wollen. Erst dann fangen sie an, den lebendigen "Weltorganismus" zu bilden, von dem Wilhelm Ostwald als letztem Ziel seiner Registratur träumte.

Ordnung hatte Wilhelm Ostwald im Sinn, und geordnet sollte die Welt sein, auf dass es sich rationaler und effizienter mit ihr umgehen ließe. Sein Versuch, alle Formen geistiger Arbeit in einem gemeinsamen, für alle und jeden gültigen Format aufgehen zu lassen, war die Übertragung von Vorstellungen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts für die mechanische Arbeit entwickelt worden waren, auf das intellektuelle Leben.

Das Unternehmen scheint daher in die Nachbarschaft der ultimativen Maiskolben-Essmaschine zu gehören, die Charlie Chaplin in seinem Film "Moderne Zeiten" aus dem Jahr 1936 traktiert. Und das Unternehmen endet auch wie die Maiskolben-Episode: Damit nämlich, dass der Mensch der Zukunft von einem ihm vorgesetzten Rationalisierungs-Apparat beinahe zur Strecke gebracht wird.

Weltregister als Markt

Rationalisierung aber spielt bei der zeitgemäßen "Weltregistratur" erst in zweiter Linie eine Rolle. Zunächst einmal muss es diese Verdopplung geben, freiwillig, und es gibt sie, wenn die zu verdoppelnden Wesen oder Gegenstände beginnen, das Register als Markt zu verstehen und für sich zu werben.

Sie müssen Warenform annehmen wollen. Denn dann fangen sie an, sich selber zu registrieren - und zwar genau so, wie es die Warenform verlangt: ein jeder für sich, also partikularisiert (also in einen Eintrag verwandelt, ein jeder modularisiert (also in Schlagworte aufgelöst) und ein jeder vernetzt (wobei die Größe und Vielfalt des Netzes verraten soll, wie begehrlich die Ware ist).

Eine "Vereinigung der Vielfalt bei gleichzeitiger Zentralisierung des Materials und der Medien" nennt Markus Krajewski das Verfahren, aus dem die Weltregistratur um das Jahr 1912 entstehen sollte. Man könnte diese Formel ohne die geringsten Schwierigkeiten auf die fortschrittlichsten Anwendungen der digitalen Technik im Jahr 2012 übertragen.

Die "App" mit dem Namen "Passbook" scheint einen kommerziell unmittelbar nützlichen Effekt zu besitzen: Sie verkürzt den Abstand zwischen dem Geld und der Ware. Nicht alle zeitgemäßen "Weltregistraturen" können mit solchen sofort verständlichen Vorteilen aufwarten. Auch "Facebook" kann es nicht, weswegen die Aktienkurse unsicher sind und Mark Zuckerberg manchmal wie ein Betrüger wirkt.

Das liegt daran, dass diese Registraturen, genau wie Wilhelm Ostwalds Unternehmen, als notwendig ebenso offene wie sich permanent erweiternde Systeme angelegt sind. Dieser idealistische, nicht-kommerzielle Charakter der Registratur ist die Voraussetzung dafür, einen jeden als Matrix eines potentiellen Kunden abzubilden und als solchen zu benutzen.

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