Antje Rávik Strubels Roman "Blaue Frau":Begegnungen im Unerkundbaren

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Slawische Seele, skandinavisches Design: Strubels Roman ist nebenbei ein Finnland-Porträt. (Foto: age fotostock / Ton Koene/mauritius images / age fotostock)

Antje Rávik Strubel ist eine Meisterin der inneren Zustände. In ihrem Roman "Blaue Frau" erzählt sie eindrucksvoll eine Harvey-Weinstein-Geschichte.

Von Maike Albath

Adina tastet sich über Sinneswahrnehmungen an sich selbst heran. Ihr Ohr erfasst die Geräusche in der fremden Umgebung, ihr Auge sieht das Licht der Straßenlaternen und fokussiert die spärlichen Einrichtungsgegenstände der Wohnung, in die sie sich geflüchtet hat, irgendwo am Rand von Helsinki. Sie ist allein, und niemand scheint zu wissen, wo sie sich versteckt.

Dass sie unter Schock steht, wird von der ersten Zeile an spürbar. Nur ganz allmählich kann sie sich an das annähern, was ihre Panik ausgelöst hat. Es ist etwas Düsteres, Gewaltvolles, Verschüttetes, und es trieb sie von Deutschland bis nach Finnland, wo sie zuerst in einem Hotel am Tresen jobbte und dann eine Zeit lang bei ihrem Geliebten Leonides in einem Holzhaus lebte. Zu ihrer Mutter in das kleine tschechische Dorf im Riesengebirge kann sie nicht zurückkehren.

Bereits auf den ersten Seiten von Antje Rávik Strubels gleißendem Roman "Blaue Frau" setzt ein charakteristischer Sog ein. Die Autorin versteht es meisterhaft, den inneren Zustand ihrer Heldin auszuloten, sie zu umkreisen und zu umspielen, ohne ihr je zu nahe zu treten. Dabei entsteht eine reizvolle Parallele zwischen den Selbstvergewisserungsversuchen ihrer Hauptfigur und Rávik Strubels erzählerischen Verfahren, denn sie pendelt zwischen äußerster Präzision - die Straßenlaternen sind Peitschenlampen mit metallenen Schirmen, das Rauschen der Blätter stammt von einem Vogelbeerbaum, der Espressokanne entweicht durch eine Düse ein Zischen - und einer beunruhigenden Unschärfe, etwas Diffusem, das sich im Umgang mit den erlittenen Erfahrungen ihrer Heldin einstellt.

Am Hafen von Helsinki taucht die geheimnisvolle "blaue Frau" auf

Dazu passt, dass die junge Frau mehrere Namen trägt: Nina, Sala, Adina. Und "der letzte Mohikaner", wie sie sich in einem Chatroom ihrer einsamen tschechischen Jugend nannte. Dieser Krieger aus James Fenimore Coopers berühmtem Roman scheint ihre ureigene Bastion zu sein, ihr geheimes Kraftreservoir. Wenn sie ihn in sich spürt, weiß sie, was sie zu tun hat. Vor allem der Geschlechterwechsel verleiht ihr Stärke.

Es gibt aber noch einen weiteren Handlungsstrang. Groß gedruckte Anfangsbuchstaben kennzeichnen diese Ebene, die zunächst nur wenige Sätze umfasst und fast wie ein eingestreutes Gedicht wirkt, im Verlauf des Romans dann aber an Raum gewinnt und den Rhythmus antreibt. Eine Ich-Figur, die einige Eigenschaften mit der Autorin teilt, von Beruf Schriftstellerin ist und gerade einer Geschichte auf der Spur ist, lernt am Hafen von Helsinki die "blaue Frau" kennen. Eine ebenso geheimnisvolle wie anziehende Person. "Du darfst alles, aber rechne nicht mit mir", lässt sie einmal verlauten.

Diese "blaue Frau", bei deren Namen man unweigerlich Gemälde von Gabriele Münter wie das "Porträt einer jungen Frau" vor Augen hat, wirkt einerseits wie eine Verkörperung von Dichtung überhaupt. Sie scheint die kreativen Kräfte der Ich-Erzählerin anzufachen und den Raum der Fiktion zu markieren. Dazu passt das Motto der Dichterin Inger Christensen, mit dem der erste Teil des Romans überschrieben ist: "Ich habe gehört, dass ich die Frau bin, der er schon auf Seite sechzehn begegnet."

Ein estnischer Diplomat kämpft für eine neue poststalinistische Erinnerungskultur

Gleichzeitig deutet sich nach und nach eine immer größere Ähnlichkeit mit Adina an. Ob es sich um ein und dieselbe Person handelt, bleibt aber im Ungefähren, und auch das macht das Schillernde von Rávik Strubels Prosa aus. Effektvoll lässt sie die verschiedenen Sphären miteinander verschmelzen: Plötzlich sieht die Wohnung, in der sich die Schriftstellerin aufhält, genauso aus wie Adinas Zufluchtsstätte. Dass sich diese Rätsel nicht endgültig klären, bildet den Fluchtpunkt des Erzählens, und nur über die Fiktion scheint Adinas grausame Wahrheit einholbar. "Im Unerkundbaren kommen wir einander nah", zitiert die blaue Frau Ilse Aichinger.

Die Geschichte der jungen Tschechin, die 1984 geboren wurde, erstreckt sich über alle vier Teile des Romans. Sie kommt in Bruchstücken zum Vorschein, muss mühsam freigelegt werden, und ein Teil der Geschehnisse lässt sich nur indirekt vermitteln. Umso deutlicher teilt sich die Gewalt mit, die Adina erlitten hat. Kindheitsszenen aus dem schneereichen Dorf, wo das Mädchen nach der Schule für Touristen Drinks mixte, durchlöchern die Liebesgeschichte mit dem estnischen Diplomaten und Universitätsprofessor Leonides, die ihr, wie es heißt, eine "Atempause" verschafft.

In Leonides verbinden sich Osten und Westen, er ist ein Feingeist und kämpft für eine neue Erinnerungskultur, um die "Dunkelstellen" des Stalinismus ans Licht zu befördern. Für die Not seiner Freundin fehlt ihm dennoch das Sensorium. Nach dem Tod ihres Großvaters, eines Partisanen, der den Tischbeinen die Löwenköpfe absägte, um sie von ihrem bourgeoisen Ballast zu befreien, wuchs Adina in einem Frauenhaushalt auf. Andere Jugendliche gab es in ihrem Umfeld nicht.

Auch deshalb fühlte sie sich als "der letzte Mohikaner". Durch diese Einsamkeit schien sie den auftrumpfenden Gepflogenheiten im wiedervereinigten Deutschland, wo sie 2006 landet, nicht gewachsen zu sein. In Berlin-Lichtenberg absolviert die schüchterne Tschechin einen Sprachkurs, navigiert im Umfeld einer lesbischen Bohème und bekommt dann eine Praktikumsstelle auf einem Gut in der Uckermark bei einem selbstherrlichen Impresario namens Razlav Stein.

Statt langatmiger Rückblenden gibt es abrupte Abstürze in die Vergangenheit

Stein ist davon besessen, mitten in der Einöde einen Umschlagplatz für Kultur aufzubauen, eine Schnittstelle zwischen Ost- und Westeuropa, und dafür braucht er einen potenten Multiplikator, jemanden, der problemlos an Geldtöpfe kommt. Dieser treffend gezeichnete Johann Manfred Bengel, alt, aber unverdrossen in Turnschuhen und immer ein sanftes "so schön, so schön" auf den Lippen, hat offenkundig seine Triebe nicht im Griff. Als Adina in Finnland auf einem Empfang, zu dem sie Leonides begleitet, sein Räuspern hört, gerät etwas ins Rutschen.

Das zeitliche Gefüge von "Blaue Frau" ist bestechend. Geschickt setzt Rávik Strubel das epische Stilmittel der Vorausdeutung ein. Nie verliert man den Überblick, die Linearität ist dennoch aufgebrochen, statt langatmiger Rückblenden gibt es kurze, abrupte Abstürze in die Vergangenheit. Oft scheinen die Erinnerungen ihre Heldin eher zu überfallen, als dass sie sich ihre Erfahrungen ins Gedächtnis rufen kann. Die vier Teile sind an unterschiedliche Hauptschauplätze gebunden, und jedes Mal deutet ein Motto auf die Stimmung hin.

Genauso souverän wie die Dramaturgie ihres Romans beherrscht Antje Rávik Strubel ihr Personal. Ihr gelingen einprägsame Figuren: Der stolze Leonides, die manipulative Berliner Fotografin Rickie, der hoffärtige Stein, der abgründige Bengel und schließlich die Lichtgestalt Kristiina, eine sensible Aktivistin und Parlamentsabgeordnete, die sich auf Wehrhaftigkeit versteht.

Finnland, heißt es, habe eine slawische Seele in skandinavischem Design

Auch die Motivik ist durchkomponiert: Adina wird von einem pathologischen Durst gequält, Helsinki ist von Wasser umgeben, die Leitfarbe ist blau, Messer spielen eine wichtige Rolle, und eine Unterführung, durch die man zum Hafen gelangt, bildet die Schranke zwischen den verschiedenen fiktionalen Bezirken. Das Netz aus literarischen Bezügen ist ebenso sorgfältig gewoben - Cooper, Aichinger, Inger Christensen und Joan Didion klingen an, Adina spiegelt sich in Carson McCullers' hinreißender Heldin Frankie aus ihrem Entwicklungsroman "The Member of the Wedding".

Und schließlich liefert Antje Rávik Strubel Einblicke in ein eigenwilliges Land zwischen den Welten, "slawische Seele, skandinavisches Design", wie es Leonides einmal beschreibt. Am eindrucksvollsten wird Rávik Strubels erzählerische Kunst, wenn sie mit Überblendungen und Doppelbelichtungen arbeitet, Konturen verschwimmen lässt und sich die Raum-Zeit-Koordinaten auflösen.

Im Schlussteil rückt Kristiina ins Zentrum, zu der Adina instinktiv Vertrauen fasst, so frei und selbstbestimmt scheint ihr die Finnin. Kristiina nimmt sich ihrer an und will in den Kampf ziehen, auch Leonides schlägt sich auf ihre Seite, aber mit dem Zynismus der Macht haben sie nicht gerechnet. "Blaue Frau" erzählt eine Harvey-Weinstein-Geschichte und bietet eine nüchterne Bestandsaufnahme der Machtverhältnisse, wie sie bis vor wenigen Jahren unantastbar waren. Übergriffe wurden bagatellisiert, selbst Frauen - bei Rávik Strubel eine elegante Schweizerin - reagieren mit fatalen Bemäntelungen: "Was immer vorgefallen ist; ich kann nur anregen, das möglichst schnell aus der Welt zu schaffen", lautet ihr Ratschlag. Am Ende wehrt sich Adina mit dem, was sie in sich trägt. Sie ist der letzte Mohikaner.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2021. 429 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)
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