Antisemitismus:Heimkehr ins Exil?

Antisemitismus: Juden in Marseille, am Tag des Messerangriffs auf einen Lehrer.

Juden in Marseille, am Tag des Messerangriffs auf einen Lehrer.

(Foto: Bartrand Langlois/AFP)

Nach einem Messerangriff auf einen Lehrer in Marseille diskutieren die französischen Juden darüber, ob sie die Kippa nicht mehr aufsetzen sollen.

Von JOSEPH HANIMANN

Am Montag ging auf offener Straße ein Schüler mit einem Messer auf den Marseiller Lehrer Benjamin Amsellem los. Dieser versuchte sich mit bloßen Händen und seiner Thora zu schützen. Der Vorsitzende der Marseiller Kultgemeinde, Zvi Ammar, schrieb daraufhin, Ausnahmesituationen erforderten außerordentliche Maßnahmen. Das Überleben gehe über das Leben in der Religion, erklärte er und riet seinen Mitgläubigen, auf äußere Zeichen wie das Tragen einer Kippa zu verzichten, bis das Klima sich wieder entspannt habe.

Der Vorschlag, sich nicht als Juden in der Öffentlichkeit erkennen zu geben, tauchte in letzter Zeit immer wieder auf, zuletzt nach dem traumatischen Angriff auf den jüdischen Supermarkt vor einem Jahr in Paris. Die prinzipielle Frage dahinter lautet: Wie weit sollen Prinzip, Überzeugung und Selbstbewusstsein der praktischen Vorsicht geopfert werden? Sie wird jedes mal wieder leidenschaftlich diskutiert.

Diesmal antwortete der Vorsitzende des Consistoire central, der gesamtfranzösischen Kultgemeinde, Joël Mergui: Zvi Ammar sei ein besorgter Familienvater, dessen eigene Kinder in der Vergangenheit schon bedroht worden seien, sein Vorschlag aber bedeute einen Verrat an sich selbst. Auch für den Vorsteher des jüdischen Zentralrats in Frankreich, Roger Cukierman, wäre eine solche Reaktion reiner Defätismus. Manche plädieren für das Gegenteil: dass auch Nichtjuden in Frankreich aus Solidarität eine Kippa aufsetzen. Der Großrabbiner Haïm Korsia regte an, dass beim nächsten Fußballspiel des Clubs Olympique de Marseille alle Fans mit einer Kopfbedeckung kommen sollten. Andere sähen eine solche Reaktion gern auch im französischen Parlament.

Die hitzige Diskussion verrät eine wachsende Spannung unter den französischen Juden, zwischen einer Minderheit, deren Identifikationsschwerpunkt sich nach Israel verschiebt, und den anderen, die sich weiterhin als Franzosen fühlen. Anders gesagt: Ein Graben tut sich auf zwischen potenziellen Auswanderern und Staatsbürgern, für die das keine Option ist. Die Auswanderungsquote nach Israel würde nun in die Höhe springen, war nach den Anschlägen vom Januar des vergangenen Jahres allenthalben zu hören. Rund 8 000 Personen waren es dann 2015 insgesamt, 10 Prozent mehr als im Vorjahr. Für die einen sind das schockierend hohe Zahlen, die anderen verweisen darauf, dass es bei einer Gesamtbevölkerung von fast einer halben Million französischer Juden gerade mal zwei Prozent seien, die Frankreich verlassen.

Als Frankreich die innere Zerrissenheit zwischen Religion und Politik zu überwinden suchte und 1905 mit dem Gesetz über die strikte Trennung von Kirche und Staat besiegelte, war das Verhalten der Juden beispielhaft. Sie praktizierten die Trennung im Privatleben schon seit langem. So tragen sie auch heute die etwas emphatische Berufung von Regierung, Parteien und Meinungsführern in Frankreich angesichts der fanatischen Gewaltakte auf die Grundlagen der Republik entschlossen mit. Die Entscheidung, trotz Bedrohung im Land zu bleiben, bedeutet für viele von ihnen die Verteidigung auch eines politischen Ziels. Und die Politik dankt es ihnen. Jedem Staatsbürger die Ausübung seines religiösen Glaubens zu gewährleisten, sei "der Sinn einer laizistischen Republik", erklärte die Justizministerin Christiane Taubira nach dem Angriff gegen Benjamin Amsellem. Und der Innenminister Cazeneuve fuhr am gestrigen Mittwoch demonstrativ zu einem Besuch nach Marseille.

Etwas anderes ist jedoch das konkurrierende Aufrechnen von feindlichen Gewalt- und Symbolakten unter den Religionsgemeinschaften. Mit gut fünfhundert antisemitischen Übergriffen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrs bleiben die Juden die Hauptzielgruppe, im selben Zeitraum wurden dreihundert Akte gegen muslimische Einrichtungen registriert. Die letzteren haben sich verdreifacht, während die antisemitischen Vorfälle sich verdoppelt haben. Schlimm ist es für beide und Bemühungen gibt es in beiden Lagern, sich nicht auf einen Wettlauf um die Opferrolle einzulassen. Ein Unterschied bleibt aber: Während Islamfeindlichkeit sich spezifisch gegen Moscheen und religiöse Institutionen richtet, werden bei antisemitischen Akten auch religionsferne Ziele wie Schulen, Kulturzentren oder Vereinslokale anvisiert.

Viele schicken die Kinder zum Studium nach Israel oder kaufen dort eine Wohnung

Die französischen Juden versuchen, sich in der Wahrnehmung ihrer Landsleute nicht ins Fahrwasser des Nahostkonflikts ziehen zu lassen. Die Stellungnahmen über Israel und seine Politik sind zurückhaltend, die Kommentare über die Volksgenossen, die ihre "Aliya" machen, die Heimkehr nach Israel, dringen kaum nach außen. Lange habe er dieses Phänomen nicht wahrhaben wollen, schrieb unlängst der Philosoph Maurice-Ruben Hayoun: nicht der Rede wert, habe er sich gesagt. Dann habe er im vergangenen Sommer an den Stränden von Tel Aviv und Natanya realisiert, wie wichtig das Thema den Leuten sei. Viele würden die Kinder zum Studieren nach Israel schicken oder für die Rente eine Wohnung kaufen. Dass die Juden in Frankreich keine Zukunft hätten, sei in vieler Munde, für ihn aber eine unvorstellbare Idee, schreibt der Autor und tröstet sich mit einem reichlich hypothetischen Gedanken: Die jüdische Freundin des Erzählers in Michel Houellebecqs unter Heimkehrern besonders beliebtem Roman "Unterwerfung", die am Ende nach Israel auswandert, könnte ihren Akt bereuen und in ihr Mutterland zurückkehren.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: