Antike Kunstschätze:Parmesan, Sardinen, Kandelaber

Marblemania, erschienen Deutscher Kunstverlag

Ein Kandelaber aus Giovanni Battista Piranesis „Vasi, candelabri, cippi, sarcofagi“, Rom 1778.

(Foto: Deutscher Kunstverlag)

Klassizistischer Kaufrausch: Norbert Miller erzählt in "Marblemania" von der Italienbegeisterung der Briten und der "Society of Dilettanti", als einer trinkfesten aristokratischen Jugendbewegung.

Von Thomas Steinfeld

Als die britische Fregatte Westmorland im Januar 1779 vor dem Hafen von Livorno aufgebracht und zur Reise nach Málaga gezwungen worden war, fielen den Räubern beträchtliche Reichtümer in die Hände: vierhundert Fässer eingelegte Sardinen, etliche Räder Parmesan, aber auch 57 Kisten mit Kunstgegenständen, die, von jungen britischen Adligen auf ihrer "Grand Tour" erworben, ihnen voraus nach London reisen sollten. Den größten Teil dieser Schätze erwarb damals Karl III., König von Spanien, woraufhin sie zunächst in seine Sammlungen und später in Vergessenheit gerieten. Als sie im Jahr 2002 entdeckt und zu großen Teilen identifiziert werden konnten, war dieser Fund eine Sensation: Kein wirklich bedeutender Sammler war unter den Absendern oder Empfängern, keine großen Kostbarkeiten waren in den Kisten verwahrt. Aber es war, als hätte sich eine Zeitkapsel geöffnet: eine "ganze, in einem Augenblick versunkene Welt" wurde wieder zum Leben erweckt.

Nördlich von Stockholm versuchte König Gustav III. ein kleines Rom zu schaffen

Mit einer Abenteuergeschichte beginnt der Literaturwissenschaftler Norbert Miller sein Buch über die Kavaliersreisen und den römischen Antikenhandel, dem er den im Englischen gebräuchlichen, aber fast schon ironischen Titel "Marblemania" gab. Tatsächlich geht es in diesem reich illustrierten Band vor allem um die "Milordi", die jungen Männer (und auch Frauen) der britischen Aristokratie, für die eine italienischen Reise mit einer Dauer von meist etwa zwei Jahren das Ende und die Vollendung ihrer Erziehung darstellte. Zuletzt, etwa zwischen den Jahren 1740 und 1820, müssen, allen Kriegen zum Trotz, Tausende von ihnen durch Europa gereist sein. Von ihren Aufenthalten in Italien handelt dieses Buch, davon, was sie sahen, wer sie betreute, von wem sie sich beraten ließen und was sie kauften. Von den großen Anstrengungen, die man in Italien unternahm, um dieser Nachfrage gerecht zu werden, von Ausgrabungen und von der Arbeit der Werkstätten, die Kopien anfertigten und Beschädigtes ergänzten. Mehr aber noch wird davon berichtet, was danach geschah: von einem breiten Strom aus Altertümern und Kunstgegenständen, der sich von Neapel und Rom nach England bewegte, von den Häusern, die entstanden, um für diese Kunstschätze einen angemessenen Rahmen zu bilden, und schließlich davon, wie sich dieser Klassizismus in ganz Europa verbreitete, bis zum Versuch des schwedischen Königs Gustav III., nördlich von Stockholm ein kleines neues Rom zu schaffen.

Das Interesse der Briten an der antiken Kunst hatte, verglichen mit Frankreich, mit Verspätung begonnen, wegen der Distanz der anglikanischen Kirche zu Rom. Als das große Reisen dann zu Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzte, richtete es sich zuerst auf das Vorbild Venedig: auf eine Handelsrepublik, die von einem landbesitzenden Adel beherrscht wurde, der die Sommer auf seinen Gütern und die Winter in der Stadt verbrachte. Die Architektur Andrea Palladios wurde auf englische Verhältnisse übertragen, und in die neu errichteten Villen zog der von antiker Kunst begeisterte Sammler.

Mit seinesgleichen schuf er die "Society of Dilettanti", in denen die Erinnerungen an die Italienreisen gepflegt wurden, aber auch mehr als das: Der Klub beförderte Kennerschaft und Logistik im Umgang mit den antiken Kunstschätzen, und er wurde sogar zur Agentur immer weiter reichender Unternehmungen, vor allem in Gestalt von Expeditionen, in denen die "Dilettanti" in historisch und geografisch noch kaum erschlossenes Terrain vordrangen.

Norbert Miller ist ein Anachronismus: Er schreibt sehr, sehr gut

Einer solchen Professionalisierung stand die zunehmend gewerbsmäßige Organisation des italienischen Kunsthandels gegenüber - und eine staatliche Aufsicht, vor allem vonseiten des Vatikans, der es darum zu tun war, zumindest die repräsentativsten Stücke in Rom zu behalten. Als Papst Clemens XIII. im Jahr 1763 Johann Joachim Winckelmann zum "Commissario delle Antichita" ernannte, gehörte auch diese Aufsicht zu seinen Aufgaben. Mit der Arbeit zu den "Dilettanti" setzt Norbert Miller eine Serie von Studien zum Klassizismus fort. Der Kupferstecher, Architekt und Händler Giovanni Battista Piranesi spielt darin eine ebenso zentrale Rolle wie der Schriftsteller und Politiker Horace Walpole, ansonsten einer der Begründer des Schauerromans, und der Baumeister (und Romancier) William Beckford, der auch als Architekt von Türmen und Gärten hervortrat. Durch Rom und die Grand Tour sind all diese Gestalten verbunden. Mit seinen Helden teilt Norbert Miller die Begeisterung für den Klassizismus, dem eine Wendung ins Melodramatische zumindest nicht fremd ist, und vor allem: ein Enthusiasmus, der, um die unaufhebbare Distanz zum klassischen Ideal wissend, dessen Aufhebung (im positiven Sinn) in der Bildung sucht - was Norbert Miller zu einer auf angenehmste Weise anachronistischen Figur unter den deutschen Literaturwissenschaftlern macht. Wobei hinzukommt, dass er sehr, sehr gut schreibt.

Norbert Miller: Marblemania. Kavaliersreisen und der römische Antikenhandel. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2018. 184 Seiten, 34,90 Euro.

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