Anti-Held Wickie:Angst macht erfinderisch

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Von der Gabe, im richtigen Moment einen Geistesblitz zu haben: Warum Wickie, der nun ins Kino kommt, ein familienfreundlicher Anti-Held ist.

Christian Mayer

Wenn eine Figur zum Klassiker wird, dann muss sie etwas haben, das sie den Moden der Zeit überlegen macht, eine Haltung vielleicht, eine große Kraft oder einfach nur Stil. In diesem Fall verfügt der Protagonist über die Gabe, im richtigen Moment einen Geistesblitz zu haben. Anders als die vermeintlich starken Männer in seiner Umgebung will er, wenn es brennt oder stürmt, nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern benutzt sein Hirn. Er ist im Grunde seines Herzens eben ein vorsichtiger Typ, kein geborener Held.

Trotz seiner außergewöhnlichen Begabung zu großer Empathie fähig: Wickie. (Foto: Foto: AP)

In diesen Tagen ist sehr viel von Wickie die Rede, dem lange unterschätzten Klassiker. Das liegt daran, dass sich Michael Bully Herbig der Geschichte bemächtigt hat. Aus der Trickfilmfigur ist ein realer Junge geworden, gespielt vom elfjährigen Jonas Hämmerle, der sich als außerordentliches Talent erwiesen hat. Und wie das so ist, wenn Herbig eine Kino-Offensive startet: Am erfolgreichsten deutschen Regisseur und Produzenten der vergangenen Jahre ("Der Schuh des Manitu") ist kein Vorbeikommen. Der Münchner hat wieder einmal alle Hebel der Branche in Bewegung gesetzt, um die Aufmerksamkeit für sein Werk zu maximieren.

Auch wenn jetzt alle über den Film reden, der am kommenden Mittwoch anläuft: Das Original wird Herbigs Version mit großer Wahrscheinlichkeit überdauern. Vorlage für die ZDF-Serie, die von 1972 bis 1974 als deutsch-japanische Koproduktion entstand, war ein Kinderbuch aus dem Jahr 1963: "Vicke Viking" hieß der Titelheld des Autors Runer Jonsson. Zum Welterfolg verhalf Wickie allerdings ein Fernsehmann. Josef Göhlen, Leiter des Kinder- und Jugendprogramms beim ZDF, hatte Anfang der siebziger Jahre die abenteuerliche Idee, ein japanisches Zeichentrickstudio mit einer Serie zu beauftragen - auch um die Kosten möglichst niedrig zu halten.

Für die Japaner war Wickie, der zum Vorzugspreis produziert wurde, die einmalige Chance, den europäischen Markt mit ihren Comicfiguren im Manga-Stil zu erobern. Bisher waren im Fernsehen vor allem amerikanische Supermäuse und ein paar tschechische Kinderfilme zu sehen gewesen. Die ungewohnte Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Japanern schloss kleinere Missverständnisse zunächst nicht aus, wie der heute 77-jährige Göhlen erzählt: "Im ersten Entwurf wirkte Wickie ziemlich gewöhnungsbedürftig, er hatte eindeutig japanische Gesichtszüge. Ich glaube auch, unsere Zeichner wussten gar nicht so genau, ob die Figur ein Mädchen oder ein Junge sein soll." Eine Irritation, die bis heute andauert, obwohl Wickie mit Ylvi eine weibliche Verehrerin hat.

Gleich bei der allerersten Ausstrahlung am 31. Januar 1974 schlug Wickie das junge Publikum in seinen Bann. Das lag an den liebenswert-trotteligen, teilweise sehr skurrilen Charakteren, die von den deutschen Synchronsprechern kongenial dargestellt wurden. Auch die Musik mit dem Titelschlager von Christian Bruhn ("Hey, hey Wickie") hat dabei eine Rolle gespielt. Zwar besaß die Serie noch nicht die technische Brillanz und das Tempo, das die digitalen Superhelden der Gegenwart auszeichnet; aber gerade der menschliche Strich verleiht den Bewohnern des kleinen Dorfes Flake viel Wärme und einen besonderen Charme.

Ich bin entzückt! Entzückt!

Seit Jahrzehnten kann man sich an den in Hassliebe verbundenen Streithähnen Tjure und Snorre kaum sattsehen, auch der dicke Faxe mit seiner Vorliebe für Fleischkeulen und der verhinderte Bänkelsänger Ulme haben sich dauerhaft ins Herz des Publikums gespielt. Der gemütliche Gorm ist bis zum heutigen Tag einfach nur hemmungslos entzückt. Vor allem dann, wenn Wickie sich mit sicherem Gespür die Nase reibt, bis die Sterne fliegen und er die rettende Idee hat. Die Sterne fliegen in beeindruckender Regelmäßigkeit: Bereits neun Mal ist die Serie mit sagenhaften 78 Folgen auf Kika gelaufen, wobei der Marktanteil bei den ganz kleinen Zuschauern regelmäßig bei mehr als 67 Prozent liegt. Auch das ZDF hat mächtig von Wickie profitiert, zwölf Mal waren die Abenteuer dort zu sehen. Wickie läuft heute weltweit, gemeinsam mit Derrick dürfte er die bekannteste Figur des deutschen Fernsehens sein.

Die Fernsehmächtigen waren zunächst weniger entzückt über den rotblonden Naseweis, der endlich auch mal mit den Erwachsenen auf hoher See bestehen möchte. "Wir wollten einfach nur gute Familienunterhaltung machen", erzählt Göhlen, der später auch Heidi und die Biene Maja zu Kultfiguren machte. "In dieser Zeit, als alles irgendwie sozialkritisch sein musste, kam unsere heile Wickingerwelt im Sender erst gar nicht so gut an." Im Grunde ist die Botschaft der Serie zutiefst familienfreundlich: Wickie ist keiner dieser wilden Kerle und wilden Hühner, die in heutigen Kinderzimmern ihr Unwesen treiben und Eltern zur Raserei bringen. Er meint es sogar mit seinen Feinden gut, und seine Ängste vor Wölfen und finsteren Gestalten lebt er offen aus, indem er seine Furcht kreativ nutzt.

Dieser Junge, der wegen seiner außergewöhnlichen Begabung auch das Zeug zum Sonderling hätte, ist zu großer Empathie fähig. Nachsicht übt er besonders gegenüber seinem Vater Halvar, der oft haarsträubende Fehler macht. Statt den minderbemittelten Erzeuger der Lächerlichkeit preiszugeben, lässt ihm der Sohn immer wieder die Chance, das Gesicht zu wahren: Im Bogenschießen und Steineschleppen ist Papa klasse! Vielleicht ist das ein Grund, warum man sich frohen Mutes als Erwachsener die Serie ansehen kann: Die Erwachsenen bei Wickie mögen unfähig und borniert sein, aber die Kinder verzeihen Schwächen, weil sie ihre Eltern lieben und sich selbst geliebt fühlen. "Solche Botschaften waren 1974 gar nicht selbstverständlich. Schließlich hat sich damals die 68er-Generation mit den Vätern massiv auseinandergesetzt", sagt Göhlen, der nie pädagogisch angehauchtes oder politisch inspiriertes Kinderfernsehen machte wollte.

Als Fan der Serie muss man es Michael Herbig anrechnen, dass er sich so eng an die Vorlage gehalten hat. Auch wenn im Film der Vater-Sohn-Konflikt stärker dramatisiert wird. Der an sich gutmütige Halvar, der gerne einen mutigeren Sohn hätte, wirkt nun komplett überfordert als Vater und Vorgesetzter; auch als Ehemann ist er zu bemitleiden. Man würde ihm gerne einen modernen Erziehungsratgeber in die Hand drücken, damit er lernt, dass man mit seinen Kindern nicht in einen infantilen Wettstreit treten sollte - aber Wikinger können ja leider nicht lesen. Ansonsten ist im Kinofilm bis auf ein paar überflüssige Figuren fast alles wie in der Serie, selbst das dröhnende Gelächter des schrecklichen Sven, der eine Bande Deppen kommandiert.

Der Klassiker aber bleibt der Wickie aus den Abenteuer- und Aufbruchsjahren des deutschen Kinderfernsehens. Ein Anti-Held mit Köpfchen, der einst auszog, die anderen nicht das Fürchten, sondern Menschlichkeit zu lehren.

© SZ vom 05.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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