Süddeutsche Zeitung

Anthropozän-Serie:Naturgewalt Mensch

Lesezeit: 6 Min.

Wir wissen um Klimawandel und Artensterben. Aber welche Folgen hat das für Kultur, Demokratie und das Zusammenleben auf unserem Planeten? Eine neue Serie beleuchtet die Folgen des Anthropozäns.

Von Jörg Häntzschel und Alex Rühle

Im Jahr 2000 nahm der niederländische Atmosphärenchemiker Paul Crutzen an einer Konferenz von Erdsystemwissenschaftlern in Mexiko teil. In den Debatten seiner Kollegen war immer wieder vom Holozän die Rede, dem Erdzeitalter, das vor rund 12 000 Jahren mit der Erwärmung der Erde am Ende des Pleistozäns begann. Crutzen, dem 1995 für seine Forschungen zum Ozonloch der Nobelpreis verliehen worden war, stand irgendwann auf und rief: "Hört endlich auf, vom Holozän zu sprechen. Wir sind nicht mehr im Holozän.

Wir sind im ... im ... Anthropozän!" Crutzen war nicht der Erste, der versuchte, mit diesem Begriff darzustellen, dass die Eingriffe des Menschen in die Natur eine erdgeschichtliche Dimension erreicht haben. Doch erst mit seinem Auftritt und seinem 2002 in Nature erschienenen Aufsatz "Geologie der Menschheit" hatte die Wissenschaft einen eingängigen Begriff für eine unheimliche Erkenntnis: Wir stehen am Beginn eines neuen, menschengemachten Erdzeitalters. Der Mensch ist zur Naturgewalt geworden.

Seitdem wurden etliche Konferenzen abgehalten und Dutzende Bücher geschrieben. Doch was genau mit dem Anthropozän gemeint ist und welche Implikationen es haben könnte, das bleibt auch Jahre nach der Einführung des Begriffs seltsam undurchsichtig. Verwunderlich ist das nicht: Schließlich ist das Anthropozän nicht zu verwechseln mit einer bloßen Krise in unserem seit 12 000 Jahren gewohnten Erdsystem. Behalten die Fürsprecher der Anthropozän-Theorie recht, dann würde es eine Umwälzung bedeuten, wie sie der Mensch ganz buchstäblich noch nicht erlebt hat. Eine Umwälzung, die nicht nur das Verhältnis zur Natur betrifft, sondern damit untrennbar verbunden auch all die Gewissheiten und Koordinaten ins Kippen bringen würde, in denen wir unser Weltbild und unser Denken eingerichtet haben.

Das Anthropozän ist also keine rein naturwissenschaftliche Angelegenheit. Es betrifft alle Aspekte der menschlichen Kultur, von Ethik und Politik bis hin zu Religion und Kunst. Weshalb wir in einer Feuilleton-Serie in zehn bis 15 Essays, Reportagen, Interviews eine Art Rahmen skizzieren wollen, der die Auswirkungen der damit einhergehenden Veränderungen zumindest einmal absteckt.

Die ersten Symptome dessen, was da auf uns zukommt, kennen wir: Die ständig steigende Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre hat den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperaturen in Gang gesetzt, die Übersäuerung der Ozeane, das Schmelzen des Polareises und den Anstieg der Meeresspiegel. Die weiträumige industrielle Zerstörung ganzer Lebensräume und der intensive Gebrauch von Pestiziden haben zu einem derart massiven Artensterben geführt, dass viele Wissenschaftler es mit dem Massensterben am Ende des Perm-Zeitalters vergleichen, bei dem 90 Prozent aller Meereslebewesen und 70 Prozent der Landbewohner verschwanden.

"Anthropozän" ist aber nicht einfach ein neues Wort für "ökologische Krise". Natürlich fordern sowohl die Anthropozän-Vordenker als auch die Umweltschützer ein Ende der Naturzerstörung, ein radikales Umdenken. Doch die Anthropozän-Idee schließt eine Kritik der Umweltdebatte mit ein. Mit Begriffen wie "Nachhaltigkeit" halte diese letztlich an der Vorstellung fest, die Rückkehr zu den alten Verhältnissen sei möglich. Und sie verhindere, der neuen Realität ins Auge zu sehen, in der die Natur nicht mehr vor dem Menschen "geschützt" werden kann, weil er bereits so tief in sie eingegriffen hat, dass viele Prozesse längst irreversibel sind. Wie sollte man noch von unberührter Natur sprechen, wenn selbst auf Henderson, einem der entlegensten Atolle der Welt, 5000 Kilometer entfernt von der nächsten menschlichen Siedlung, täglich mehrere Tausend Stück Plastikmüll angeschwemmt werden?

Ebenfalls nicht gemeint ist mit dem Begriff Anthropozän eine finale Geste menschlicher Hybris. Dass der Mensch sich mit diesem neuen Epochenmarker selbst als erdgeschichtlichen Akteur anerkennt, ist nicht anmaßend oder triumphierend zu verstehen, sondern als Feststellung der Realität und als Verantwortungsappell, die damit zusammenhängenden Konsequenzen zu reflektieren. Klar ist drittens auch, dass mit dem "Mensch" im Anthropozän-Begriff nicht unterstellt werden soll, dass alle Menschen gleichermaßen Schuld an der Entwicklung tragen, die zum Anthropozän geführt hat. Dass es riesige Unterschiede darin gibt, welchen Anteil an Kohlendioxidausstoß, Landverbrauch, Fleischkonsum die Menschen zwischen Nord und Süd, zwischen einzelnen Ländern und Gesellschaftsformen tragen, ist zentrales Thema der Anthropozän-Debatte.

Wann begann die Menschheitsära? Mit der Industrialisierung? Oder mit der Atombombe?

Nachdem die International Union of Geological Sciences (IUGS), die Organisation, die zuständig ist für die Klassifizierung der erdgeschichtlichen Zeitalter, eine Gruppe interdisziplinärer Forscher um ihre Einschätzung gebeten hatte, bestätigte dieses Gremium im August 2016 auf dem Internationalen Geologischen Kongress im südafrikanischen Kapstadt Crutzens Thesen. 34 der 35 Wissenschaftler plädierten für eine Einführung des Begriffs.

Seither wird darum gestritten, wann denn nun der Beginn des Anthropozäns anzusetzen ist: mit der Industrialisierung? Schließlich nimmt seither die Konzentration von Methan und CO₂ zu. Mit der Zündung der ersten Atombombe am 16. Juli 1945? Oder erst mit der "Great Acceleration" von Mitte des 20. Jahrhunderts an? Die jahrtausendelange graduelle Steigerung der menschlichen Aktivitäten, das allmähliche Wachstum der Erdbevölkerung, die Besiedlung und "Urbarmachung" immer größerer Teile der Welt begannen um 1950 herum, sich exponentiell zu beschleunigen. Ob es der Ausstoß von Kohlendioxid ist, der Landverbrauch, das Roden der Regenwälder, der Fleischverzehr, der Bau von Staudämmen oder die Zahl der Erdbewohner: Alle Kurven steigen seitdem jäh an.

Alle bisher geltenden Regeln und Koordinaten werden ungültig

Damit das Anthropozän tatsächlich als neues Erdzeitalter festgeschrieben werden kann, müssen die Geologen nachweisen, dass die Spuren menschlicher Aktivität auf der Erdoberfläche so dauerhaft sein werden, dass sie sich auch in Hunderttausenden Jahren noch nachweisen lassen - so wie Meteoritenabstürze, Eiszeiten oder Vulkanausbrüche aus früheren Erdepochen. Von den Städten und der technischen Zivilisation werden vermutlich eine dünne Schicht aus Ziegeln, Beton und den Überresten aus Stahl, Glas und Kunststoff sowie Rückstände aus Atomwaffentests und Flugasche aus der industriellen Produktion bleiben. Die Schichten der Jahre um 1950 speichern den radioaktiven Niederschlag der oberirdischen Atomtests. Vor allem aber wird man aus negativen Indizien ersehen können, dass es in unserer Zeit einen dramatischen Epochenbruch gab: Es verschwanden in den letzten Dekaden hundert bis tausend Mal so viele Tierarten wie in vergleichbaren Zeitabschnitten der vergangenen 500 Millionen Jahre. Tendenz rapide steigend. Und es könnte da, wo man über Jahrtausende hin verschiedenste Pollen im Gestein nachweisen kann, plötzlich nur noch die karge Auswahl der Mais- oder Sojapollen unserer industriellen Landwirtschaft zu finden sein.

All das sind geologische Fachfragen. Wenn aber durch das Anthropozän alle bekannten Koordinaten ins Rutschen kommen, was bedeutet das dann für die Kultur im weitesten Sinne?

Dass die menschliche Kultur sich in den letzten Jahrtausenden so rasant entwickeln konnte, ist vor allem der außerordentlichen klimatischen Beständigkeit dieser Zeit geschuldet. 12 000 Jahre lang konnte sich der Mensch im Holozän einrichten. Weit über seine jeweilige Gegenwart hinaus öffnete sich ein zeitlicher Raum, den er zu nutzen lernte, um für die Zukunft zu planen. Mit dieser Vorhersehbarkeit der Natur ist es nun vorbei. Der Klimawandel bedeutet ja mehr als nur das Ansteigen der Temperaturen. Er bringt ein lebendiges, aber stabiles und dem Menschen seit Jahrtausenden bekanntes System aus dem Lot. Die Folge sind neue Dynamiken von Wetterextremen bis hin zum möglichen Kippen des Golfstroms. Der Mensch ist mit Phänomenen konfrontiert, die ihm völlig neu sind. Der Philosoph Timothy Morton spricht von einem "traumatischen Verlust aller Koordinaten". Daraus ergeben sich grundlegende Fragen: Können wir mit unserem im Holozän erworbenen intellektuellen Instrumentarium das Anthropozän verstehen? Brauchen wir nicht eine andere Vernetzung der Wissenschaften, neue Disziplinen, wie es etwa Hans Joachim Schellnhuber, der Gründer und bisherige Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) in einem Gespräch zu dieser Serie forderte. Wir wollen aber auch juristische und geopolitische Implikationen beleuchten: Inwieweit muss die Menschheit, um die eigene Naturgewalt einzuhegen und zu kontrollieren und mit den Folgen umzugehen, neue Instrumente zur Selbststeuerung und neue Foren internationaler Zusammenarbeit installieren? Würden solche Maßnahmen nicht mit unserem demokratischen Gesellschaftsmodell kollidieren, das ja immer von wählbaren Handlungsoptionen und selbstverantwortetem Wandel ausgeht und jeden deterministischen Zwang ablehnt? Würden sie, auf internationaler Ebene, nicht das Selbstbestimmungsrecht der Nationen beschneiden?

In einem weiteren Beitrag wird sich der Soziologe Harald Welzer mit den sozialen Folgen des Klimawandels beschäftigen, mit erzwungener Migration, vermehrtem Stress in scheinbar stabilen Gesellschaften und der Frage, ob ein Konflikt wie der in der sudanesischen Provinz Darfur tatsächlich als "Klimakrieg" bezeichnet werden kann. Wir fragen nach der ambivalenten Rolle der Religion für das Anthropozän - zwischen dem Auftrag "Macht euch die Erde untertan!" und der Verpflichtung, die Schöpfung zu bewahren. Und wir gehen der Frage nach, ob sich mittels Geo-Engineering, also avanciertester Großtechnologie, all das, was der Mensch mit seinem Technikfuror angerichtet hat, reparieren und beheben lässt.

Bleibt die Frage, ob dem Anthropozän auch Hoffnungsmomente zu eigen sind. "Natürlich", sagt Paul Crutzen: "Was wüssten wir schon über unsere Atmosphäre, wenn wir sie nicht vorher verschmutzt hätten?"

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SZ vom 28.04.2018
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