Energiewende:Das Ende des hundertjährigen Öl-Rauschs

Fire and smoke rise from a controlled burn of oil on the surface of the Gulf of Mexico near BP's Deepwater Horizon spill source

Nur wenn etwas schiefgeht, tritt das Öl plötzlich hervor, manchmal in apokalyptischen Feuern wie auf der brennenden Ölplattform Deepwater Horizon.

(Foto: REUTERS)

Die Menschheit verabschiedet sich vom Ölzeitalter und fragt sich beklommen: Wie konnten wir so abhängig werden? Zur Antwort gehört der Wunsch nach einer neuen Welt.

Von Jörg Häntzschel

Noch nie hat die Menschheit so viel Öl verbrannt. Noch nie gab es so viele Autos, so starke Motoren. Und dennoch scheint es, als habe die Dämmerung des Ölzeitalters begonnen. Als Schlüsselstoff der Weltwirtschaft ist es überholt ("Daten sind das neue Öl."), als Kriegsgrund ist es enttarnt ("Kein Blut für Öl!"). Selbst Saudi-Arabien denkt an die Zeit danach. Es plant ein Solarkraftwerk, das mit 5000 Quadratkilometern hundert mal so groß ist wie das größte Solarkraftwerk heute. Nach und nach macht sich die Einsicht breit, dass die Menschheit an ihren Abgasen erstickt.

Doch das Ende des hundertjährigen Öl-Rauschs ist nicht ohne Kater zu haben. "Petromelancholie" nennt die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Stephanie LeMenager diese Mischung aus Wut und Schwermut, an der die Menschheit vor dem unvermeidlichen Entzug leidet.

Bei manchen äußert sie sich in den Gewissensbissen, die sie zwischen Auto und Zapfsäule überfallen, während sie darauf warten, bis die nächsten 70 Liter im Tank sind. Andere, so LeMenager, treibt die Petromelancholie zu paradoxen Entscheidungen, wie die, gerade jetzt ein noch größeres SUV zu kaufen, als Panzer für die Klimakriege. Wieder andere, sie nennen sich "coal roller", radikalisieren sich und stilisieren das Recht aufs Verbrennen zur conditio sine qua non bürgerlicher Freiheit wie andere das Waffentragen. Sie bauen die Rußfilter aus ihren monströsen Pick-ups, manipulieren die Motoren auf maximalen Verbrauch und blasen denen Rußwolken in die Lunge, die den Kulturwandel gemeistert haben - zur Strafe für ihren Verrat: Radler und Hybrid-Fahrer.

Obwohl der Höhepunkt des Ölkonsums noch nicht erreicht ist, scheint zumindest in Europa genug Distanz da zu sein, um auf das Ölzeitalter zurückzublicken. Wir sind wie Trinker, die sich vor ihrem Besuch bei den Anonymen Alkoholikern fragen: Wie konnten wir so abhängig werden? Wie konnten wir dem Öl erlauben, unser ganzes Leben zu durchdringen?

Aufstieg der Ölindustrie in Sprüngen und Brüchen

Als Erstes fällt auf, wie unsichtbar das ubiquitäre Öl ist. Kaum jemand weiß, wie es aussieht, wie es riecht, wie es sich anfühlt. Öl ist überall, aber kaum je zu sehen. Bis es nach etlichen Transsubstantiationen beim Menschen ankommt, als Kunststoff, Arzneimittel oder Dünger, sind alle Spuren seiner Herkunft getilgt. Selbst das Benzin sieht man nicht, es wird beworben als abstrakte "Power", als reine Energie wie Strom oder Licht.

Nur wenn etwas schiefgeht in den globalen Distributionsnetzen, tritt es plötzlich hervor wie Blut aus einer Wunde: in apokalyptischen Feuern, auf verschmierten Möwen und ruinierten Stränden. Der Schock, den Katastrophen wie die Explosion der Deepwater Horizon im Golf von Mexiko auslösen, rührt nicht nur von der Erkenntnis, wie unbeherrschbar dieser alltägliche Stoff ist, sondern auch daher, wie fremd er uns ist. Doch es stehen Instrumente bereit, um den Schrecken zu mildern und die Rolle des Menschen zu verschleiern: der Begriff "Ölpest" etwa, der den Industrieunfall zum Naturereignis ummünzt. Und der Perlmuttglanz des Öls selbst, der noch die schlimmste Verschmutzung trügerisch schön aussehen lässt, "schillernd wie ein Regenbogen".

Der Aufstieg der Ölindustrie verlief in Sprüngen und Brüchen. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Bohrungen begannen, suchte man nach einem Ersatz für das Walöl als Brennstoff in Petroleumlampen. Erst mit dem Auto wurde Öl allmählich zum Schlüsselrohstoff des 20. Jahrhunderts. Doch die Ausbreitung des Ölregimes durch neue Produkte und Verwendungszwecke hatte gerade erst begonnen.

Von Anfang an war der Öl-Boom überschattet von der Angst, er könne bald enden. Jeder dieser Panikzyklen führte zu Revolutionen in der Ölindustrie, zu mehr Output und mehr Verbrauch. Als um die Jahrtausendwende wieder einmal die Sorge vor "Peak Oil" und der Erschöpfung der Ölvorräte grassierte, begann die Industrie, mit Fracking und anderen Methoden, auch das schwer zugängliche "tough oil" auszubeuten - und leitete damit die heutige Schwemme billigen Öls ein.

Noch folgenreicher war die Angst vor dem Ende des Öls in den Zwanzigerjahren. Da Öl knapp zu werden schien, Deutschland aber Kohle im Überfluss besaß, begann der Chemiekonzern BASF, Benzin aus Kohle herzustellen. Das Kohlebenzin setzte sich wegen der niedrigen Ölpreise nicht durch. Doch mit dem Verfahren waren die technologischen Grundlagen für die Petrochemie geschaffen, die schließlich das alchimistische Potenzial des Öls erschloss.

Molekulare Umgestaltung

Benjamin Steininger, Alexander Klose und Bernd Hopfengärtner haben sich mit ihrer Forschergruppe "Beauty of Oil" intensiv mit der Geschichte der Öl-Chemie beschäftigt. Sie sprechen von der "inneren Kolonialisierung": Man sucht nicht nur weltweit nach neuen Vorkommen, man sucht auch in der Ressource selbst, in den Molekülen, die immer wieder neu geknackt und anders zusammengesetzt werden. Synthetischer Sprengstoff, Kunstdünger, Kosmetik, Farben und Plastik wurden mit diesen Verfahren erst möglich.

"Das 20. Jahrhundert setzt dort ein, wo diese Stoffe nicht mehr Rohstoffe sind, sondern molekular umgestaltet werden", so Steininger. Er meint damit nicht nur Wohlstand, Mobilität, Hyperkonsum und die Produktion von Nahrung für Milliarden Menschen. "Ein ganz neuer Typus von Geschichte hat mit dem Öl angefangen. Den Ersten, den Zweiten Weltkrieg hätte es ohne Öl nicht gegeben." Auch der Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht wäre ohne seine Führungsrolle in der Chemie nicht möglich gewesen. Die Moleküle sind zu geschichtlichen Akteuren geworden; der Mensch, so der Grundbefund der Anthropozän-Theorie, zur planetarischen Gewalt.

Wie revolutionär diese chemischen Vorgänge den Zeitgenossen erschienen, ist kaum noch nachzuvollziehen. Damals, so Steininger, war man sich dessen aber durchaus bewusst. Es sei kein Zufall, dass die Frühzeit der chemischen Revolutionen zusammenfalle mit der Ära der politischen: "Chemisches Denken, genauso wie revolutionäres Denken, kalkuliert die Möglichkeit des ganz anderen", so Steininger. "Die Schöpfung einer neuen Welt ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein energetisches Geschehen."

Doch gerade dieses utopische Potenzial des Öls lässt es auch gefährlich und verdächtig erscheinen. Es stammt ja nicht nur aus der Tiefe, sondern auch aus der Tiefe der Zeit. Man zapft nicht nur die materiellen Vorräte des Planeten an, man räubert auch das planetarische Zeitguthaben aus, um die Gegenwart zu beschleunigen, mit den bekannten Folgen für das Weltklima. Prometheus hat den Göttern das Feuer gestohlen, die Menschen haben der Erde den Brennstoff gestohlen.

Wie der Weg vom Korn zum Brot

In den Fünfzigerjahren machte der Werbefilmer Hans Fischerkoesen in seinen Spots für Aral einen letzten, rührenden Versuch, das Öl vom Schatten dieses Verdachts zu befreien. Statt dessen Herkunft zu verschleiern, wie es heute getan wird, malte er sie bunt aus: Lächelnd sinken bei ihm Dinosaurier und Palmen zu Boden, um sich im Zeitraffer zu der schwarzen Pampe zu verwandeln, aus der eine Raffinerie mit viel Geschnaufe eine klare Essenz destilliert.

Mutter Natur, so die Botschaft, hat uns das Öl geschenkt, der Mensch macht das Benzin daraus. Beide arbeiten Hand in Hand an einem Prozess, der so natürlich und vernünftig erscheint wie der Weg vom Korn zum Brot. Und auch die nächste Etappe folgt scheinbar den Gesetzen der Schöpfung: Zapfsäulen sind bei Fischerkoesen gütige Mütter, Autos sind Kindmänner, die kraftlos heranschleichen, um nach dem Säugen mit Aral mit neuer Vitalität davonzubrausen. Doch Fischerkoesen blickt nicht nur Millionen Jahre in die Vergangenheit, er zoomt ins Benzin selbst hinein und entdeckt statt anonymen Stoffen lächelnde Moleküle, die wie Heinzelmännchen werkeln, lauter Helfer des Menschen.

Den Verdacht gegen das Öl konnte er damit nicht ausräumen. Er rührt schon von dessen invasiver Eigenschaft her. Es durchdringt alle organischen Materialien, breitete sich über jede Oberfläche aus, lässt jeden, der mit ihm in Kontakt kommt, beschmutzt zurück. Er rührt auch von der nie ganz zu klärenden Frage her, ob es sich um einen natürlichen oder einen künstlichen Stoff handelt. Das Öl ist der Alien unter den Rohstoffen. Wohl auch deshalb ist Öl in Deutschland nicht anders vorstellbar denn als exotisches Importprodukt. Obwohl die erste erfolgreiche Ölbohrung in Niedersachsen stattfand, wo noch heute große Reserven liegen, obwohl ein Großteil der Raffinerien in Deutschland stehen, kommen Öl und Benzin im kollektiven Bewusstsein immer aus Texas oder dem Nahen Osten.

Wie suspekt uns das Öl ist, das zeigt auch der Vergleich mit dem Image der "heimischen Kohle", dem deutschen Wohlstands- und Identitätsstifter. Kohle ist ein inertes Material, Öl ist wie Quecksilber. Kohle ist nicht gesund, Öl ist toxisch. Kohle wird in harter, aber ehrlicher Schufterei gefördert, Öl zu finden, ist Glückssache. Kohle ist das Geschäft gewerkschaftlich organisierter Kumpel mit Anspruch auf Frühverrentung, Öl das von Hasardeuren, Scheichs und Diktatoren.

"Verzeiht mir alle, denn ich wollte mehr sein als ihr", fleht im Film der reuige Ölmillionär

Doch es sind nicht nur die Deutschen, die so denken. Eine ganze Spur des Mahnens vor dem Verderben durch das Öl zieht sich durch die Kulturgeschichte. Ihr Leitmotiv ist der orgastische "gusher", die Ölfontäne, die den in seine Gier buchstäblich verbohrten Öl- und Glückssucher mit dem besudelt, was man im Deutschen Pech nennt. Und die für den unkundigen Betrachter von einem katastrophalen Unfall nicht zu unterscheiden ist. Es ist ein Moment des moralischen Taumelns, von dem sich kaum ein Protagonist erholt. Sein Luftsprung im Ölregen leitet unweigerlich den tiefen Fall ein.

Unvergesslich ist diese Szene in dem Erdölepos "Giganten" (1956) mit Rock Hudson und Liz Taylor. Zwar macht das Öl den von James Dean gespielten armen Teufel noch reicher als den Rinderbaron, doch dessen Absturz ist unvermeidbar. Derselbe moralische Bankrott ereilt auch den Öl-Hasardeur Daniel Plainview in P.T. Andersons "There Will Be Blood" (2007).

Von Friedrich Wilhelm Murnaus frühem Öldrama "Der Brennende Acker" (1922) bis zu "Dallas" und "Denver Clan" (Arbeitstitel: "Oil"), den beiden ikonischen Fernsehserien der Achtzigerjahre: Der Reichtum des Öls bringt soziale Ordnungen zum Einsturz, hebelt die Moral aus, lässt die Gierigen blind werden für ihr Schicksal. "Verzeiht mir alle, denn ich wollte mehr sein als ihr!", fleht in Murnaus Film der reuige Johannes Rog, der vom Bauer zum Ölmillionär wurde, seine Familie an, als ihm seine Hybris bewusst wird.

Der Feuerdieb der Mythologie wurde zur Strafe an einen Felsen in der Erdölregion Kaukasus gefesselt. Anders ergeht es dem modernen Prometheus. Er wird bestraft mit einem Feuer, das nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist. Wie es Murnaus Johannes Rog sagt: "Nie mehr wird das höllische Feuer in mir erlöschen!"

Das Anthropozän - eine Serie

Der Mensch hat so radikal in die Natur eingegriffen, so glauben viele Wissenschaftler, dass wir von einem neuen Erdzeitalter sprechen müssen, dem Anthropozän. In einer Serie fragen wir nach den Konsequenzen für die Natur und für den Menschen, dessen Weltbild nun seine Gültigkeit verliert. Alle Texte lesen.

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