Anthropozän:Das Ende der Spaziergänge

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Gebirge, Ozean und Himmel: Nach ihrer vollständigen Unterwerfung hört die Natur auf, ein Ort ästhetischer Erfahrung zu sein. Das Übermächtige trägt längst Zivilisationsspuren.

Von Gustav Seibt

Bilder des Anthropozäns sind längst in der Literatur angekommen, kürzlich beispielsweise bei einem Autor, dem man das kaum zutrauen würde. Martin Mosebachs 2016 erschienener Roman "Mogador" enthält eine hymnische Schilderung von Ebbe und Flut der nordafrikanischen Atlantikküste, an der der titelgebende Schauplatz gelegen ist. Das Kommen und Gehen von "Wogenprall und Wasserwucht" zeige, so erlebt es die Hauptfigur, "in einem Naturtheater die Erdgeschichte, in ungezählten Akten".

Die Riffe und Felsen sind messerscharf geworden, weil das Wasser sie in Jahrmillionen ausgewaschen, "von weicheren Substanzen gleichsam entfleischt hat". Das Zurückfluten des Meers ruft den dritten Schöpfungstag auf, die Scheidung von Wasser und Land.

Bei Martin Mosebach wird die Atlantikküste zur Allegorie von Erd- und Weltgeschichte

Wenn Wellenreihen mit weißen Schaumkronen erneut heranströmen, entsteht das nächste Bild, "nicht das erdgeschichtliche, sondern eines aus der Antike: die gewappneten Reiter der orientalischen Armeen": "Aus unerschöpflichem Menschenvorrat wurden immer neue Kavallerieattacken dem Feind entgegengeworfen." Der Donner des Meeres erinnert an Hufetrommeln und an Poseidon, den Rossebändiger.

Und so geht es weiter, bis in die Gegenwart: Wieder hat sich das Wasser zurückgezogen, unterm Schwarz der Mauern liegt der Sand honigfarben, und hier zeigt sich, so sagt es Mosebachs Roman, "ein noch schöneres Schauspiel: Hundert Wasserflaschen aus Plastik fanden sich da zu einer Herde zusammen, lebendig in sanfter spielerischer Bewegung, im Ganzen dem Windhauch gehorchend und leichthin rollend, aber immer zusammenbleibend - opal schimmernde Meeresfrüchte, durchsichtige Quellen, zu Perlen verfestigte Wasserblasen."

Mosebach hat sich diese Szenerie nicht ausgedacht. Sein Roman entstand am Ort des Geschehens, in der Stadt Essaouira, die auch Mogador heißt. Die Wasserperlen aus Plastik hat der Verfasser, wie er gelegentlich bei Lesungen berichtete, dort selbst beobachten können. Umso auffälliger ist der Gleichmut, mit dem sein Erzähler sogar das Bild einer Umweltkatastrophe der erhabenen Schönheit inkorporiert, in der die Atlantikküste zur Allegorie von Erd- und Weltgeschichte wird. Die von Menschen gemachte Weltgeschichte erwächst hier bruchlos aus der Erdgeschichte, dem dritten Schöpfungstag, dem Auswaschen des Weichen aus dem Küstengestein.

Katastrophenfilme wie „The Day After Tomorrow“ gewähren heute die „schauerliche Lust“, die einst Donnerwettern vorbehalten war. (Foto: imago/Cinema Publishers Collection)

Ameisenklein wuseln Menschen während der Ebbe über die scharfzackigen Riffe und ernten Meeresfrüchte, aber es sind diese von Ferne aus gesehen winzigen Wesen, die auch die Herden von Plastikflaschen dort unten verursachen. Das Anthropozän hat die ästhetische Anschauung der Natur erreicht. Dafür musste der zeitgenössische Romancier aber keine Theorien wälzen, er musste benennen, was er vor Augen hat. Dass Schönheit und Schrecken nebeneinander liegen, davon wissen die Dichter längst, spätestens seit den Kunstphilosophien des 18. Jahrhunderts.

Der ästhetische Genuss der Natur ist ein Produkt der Neuzeit, so hat es 1963 der Philosoph Joachim Ritter in einer klassischen Abhandlung mit dem Titel "Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft" gezeigt. Naturgenuss setze die "Entzweiung" von wissenschaftlich-technischer Naturerkenntnis einerseits und der Betrachtung von Natur als Schönem andererseits voraus. Diese beiden Möglichkeiten des Naturverhältnisses spaltet das von den Griechen ererbte Anschauen des Kosmos als einer göttlichen Ordnung ("Theorie" kommt bei den Griechen vom "Anschauen") in zwei Aspekte auf: Erkenntnis und Empfindung. Die Natur, als deren Teil der Mensch sich zunächst wahrnahm, wird zum Objekt seines Handelns, seiner Freiheit, zugleich bringt er sie auf Abstand, sodass sie zum Bild werden kann. "Landschaft" ist Natur als Bild.

Ritter beobachtet diesen Prozess der Entzweiung an Beispielen wie Petrarcas Bergwanderung auf den Mont Ventoux im 14. Jahrhundert oder Schillers Elegie "Der Spaziergang", die den Stadt-Land-Gegensatz lyrisch durchspielt. Natur wird Landschaft von der Stadt aus gesehen, wo Industrie, Technik, wissenschaftliche Erkenntnis ihren Ort haben. Um sich davon zu erholen, wandelt der Spaziergänger in die schöne Natur der Umgebung.

Der Gegensatz lässt sich am Wechsel der astronomischen Weltbilder exemplifizieren: Im antiken ptolemäischen Weltbild wandert die Sonne über den Himmel, sie geht, ganz wörtlich, auf und unter. Im modernen kopernikanischen Weltaufriss lernen wir gegen den Augenschein durch Berechnungen, dass die Erde sich um sich selbst dreht und dass sie langsam um die Sonne kreist. Doch das alte Weltbild überlebt in der Dichtung: Dort wird es Sonnenuntergänge geben, solange unsere Sprachen ihren metaphorischen Bestand erhalten. In der Dichtung bleibt der betrachtende Mensch das Zentrum des Kosmos. Für Ritter waren das Figuren wechselseitiger Ergänzung. Das Entzweite braucht sein Gegenüber unter dem Signum der Freiheit: "Naturgenuss und ästhetische Zuwendung zur Natur setzen so die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus."

Joachim Ritter war ein ins Bundesrepublikanisch-Moderne gewendeter Hegelianer, der sich absichtsvoll von zeitgenössischen Umweltphilosophien absetzte, die die moderne Zivilisation "als totale Vernutzung der Erde und als Entmenschlichung des Menschen" verwerfe. Damit war unter anderen Günther Anders und sein vielgelesenes Buch über die "Antiquiertheit des Menschen" von 1956 gemeint.

Ein halbes Jahrhundert später stellen sich diese Fragen in unerhörter Verschärfung. Denn Ritters Konzept der "Landschaft" als Ort ästhetischer Freiheit setzt die Natur immer noch als ein Gegenüber des Menschen voraus, das nicht vollkommen zum Produkt seiner Herrschaft und des durch sie ermöglichten Stoffwechsels geworden ist. Zwar wurde schöne Natur seit dem 18. Jahrhundert auch künstlich gezüchtet, beispielsweise im englischen Landschaftsgarten, der den geometrischen Barockgarten ablöste. Heute beerben wir ihn, wenn wir darauf achten, dass von der Wartburg aus keine Windräder in die Sichtachsen geraten. Doch das sind Versuche, der Natur eine künstliche Freiheit zu lassen.

Am Erhabenen der wilden oder unerreichbaren Natur erhob sich der Geist zu innerer Freiheit

Immerhin, die Sonne wird auch über den Feldern von Agrarfabriken "untergehen", möglicherweise sogar mit einem schönen Abendrot. Längst haben Maler und Großstadtlyriker die Farbvaleurs von Abendsonne und Fabrikrauch entdeckt. Die Schönheit, so könnte man glauben, muss nicht sterben.

(Foto: SZ-Grafik)

Oder doch? Die "Entzweiung" von Kultur und Natur wird spätestens seit der Industrialisierung von der Kulturseite aus einkassiert. Friedrich Schiller hat in einer Abhandlung über das Erhabene diese Problemlage schon durchgespielt. Die Kultur setze den Menschen in Freiheit, heißt es da, und zwar auf zwei Arten: "Entweder realistisch, wenn der Mensch der Gewalt Gewalt entgegensetzt, wenn er als Natur die Natur beherrschet; oder idealistisch, wenn er aus der Natur heraustritt und so, in Rücksicht auf sich den Begriff der Gewalt vernichtet." In der Betrachtung gewinnt er die Freiheit gegenüber dem Übermächtigen, das die Natur bleibe. Aus der in der Betrachtung absichtsvoll aufgesuchten Erfahrung von Übermacht der Natur gewinne der Mensch eine Art "schauerlicher Lust".

Hier nennt Schiller als Beispiele Gebirge, Ozean und Himmel: "Der Anblick unbegrenzter Fernen und unabsehbarer Höhen, der weite Ozean zu seinen Füßen und der größere Ozean über ihm entreißen seinen (des Menschen) Geist der engen Sphäre des Wirklichen und der drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens. Ein größerer Maßstab der Schätzung wird ihm von der simpeln Majestät der Natur vorgehalten, und von ihren großen Gestalten umgeben, erträgt er das Kleine seiner Denkart nicht mehr."

Am Erhabenen der wilden oder unerreichbaren Natur erhebt sich der menschliche Geist zu innerer Freiheit: "Wer verweilet nicht lieber bei der geistreichen Unordnung einer natürlichen Landschaft als bei der geistlosen Regelmäßigkeit eines französischen Gartens?"

Wenn man diese Linien auszieht, gelangt man an den Konvergenzpunkt, den die Betrachtung in Mosebachs Roman "Mogador" markiert. Das Übermächtige trägt längst Zivilisationsspuren, ja es ist womöglich die entfesselte Zivilisation selbst. Die heute populärste Gestalt des Erhabenen in der Kunst ist nicht zufällig der Katastrophenfilm. Er gewährt heute die "schauerliche Lust", die einst Wasserfällen, Gletschern, Meeresstürmen, Erdbeben und Donnerwettern vorbehalten war. In Mosebachs Atlantikbild werden zwei Kunstepochen ineinandergeschoben.

In der vom menschlichen Stoffwechsel mit der Natur verursachten Katastrophe kehrt das zurück, was sich auch nach der "Entzweiung" nicht unterwerfen ließ. Die Katastrophe resultiert aus der Störung eines prozesshaften Gleichgewichts, sie ist menschlichen Ursprungs. Die Übermacht der Natur versteckt sich in ihrer Fragilität: Ein paar Grad Erwärmung, und schon kippt alles. Die Betrachtung der Natur ist in einem Innenraum angekommen, der Bergwanderungen wie die Petrarcas oder Spaziergänge wie den Schillers obsolet macht.

© SZ vom 01.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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