Anschlag von Boston:Nationaler Freakout

A family reacts after police SWAT teams assaulted a house on their street during the search for Dzhokhar Tsarnaev, suspect in Boston Marathon bombings, in Watertown

"Eine schlimme Woche für die Demokratie und den öffentlichen Diskurs." Eine Familie in Watertown erholt sich vom Einsatz einer Spezialeinheit der Polizei in ihrem Haus, den Schüssen in ihrer Straße und den "ongoing Breaking News" in den Medien.

(Foto: REUTERS)

Nach den Bombenanschlägen in Boston und der anschließenden Fahndung nach den Tätern wird in den USA heftig debattiert: Haben klassische und soziale Medien versagt? Die Zahl der kursierenden Falschmeldungen war alarmierend hoch.

Von Bernd Graff

Obwohl es hier um eine sehr ernste Angelegenheit geht, beginnt dieses Blog-Posting mit der Wiederholung eines alten (guten) Witzes: "Es wird sehr kalt in diesem Winter werden, zieht euch warm an!", sagt der Wetterreporter im Fernsehen. Einen Tag später sagt er: "Falls ihr es noch nicht mitbekommen habt, es wird sogar sehr, sehr kalt werden in diesem Winter, sorgt für Heizdecken!" Wieder einen Tag später sagt der Wetter-Mann: "Sowas von kaltem Winter scheint es noch nie hier gegeben haben, wie der, der kommt." Fragt ihn ein Kollege: "Sag mal, woher weißt du das eigentlich mit diesem kalten Winter? Keine unserer Prognosen bestätigt das." "Ja, sagt der Wettermann, "ihr und eure Prognosen! Ich schaue aus dem Fenster und sehe, dass die Indianer jeden Tag mehr Holz sammeln. Die wissen immer mehr als eure Prognosen." Also geht der Kollege rüber zu den Indianern und fragt sie, woher sie ihr Wissen über den kalten Winter haben. "Woher?", fragt der Chief. "Hast du die Wetterberichte der letzten Tage nicht mitbekommen?"

Diese Form von Rückkopplung, die sich selbst verstärkende Schleife der Selbstreferentialität ist eine Regler-Katastrophe. So etwas muss sich auch während des "Manhunt" von Boston zugetragen haben.

Wenn man einer Meldung von "Slate.com" Glauben schenken darf, und es empfiehlt sich in delikaten Angelegenheiten wie diesen jeden Satz mit einer solchen Einschränkung zu beginnen, dann hat sich während die Fahndung nach den beiden flüchtigen Personen, die man für das Bomben-Attentat von Boston verantwortlich machte, genau das ereignet.

Menschen hören etwas von der Polizei, die Polizei liest die darauf sich massenhaft verbreitenden Tweets und gibt das, was sie dort lesen, über Polizeifunk weiter, was wiederum Menschen aufschnappen und verstärkt als "Polizei-Information" tweeten. Allein: Alles war falsch.

Und so muss es sich zugetragen haben, wie Slate.com in einem anderen Artikel berichtet: Nachdem einer der Verdächtigten tot, der andere noch flüchtig war, schossen am Freitag die Download-Zahlen für sogenannte Police-Scanner in die Höhe.

Rückkopplungsschleife falscher Informationen

Damit kann man über alle möglichen Endgeräte Polizeifunk abhören. Das, was das vermeintlich aus erster Hand abgehört worden war, wurde über Stunden hinweg nahezu live getweetet und retweetet. Das, was die Polizei aber funkte, hatte sie selber von Twitter und dem Social News-Aggregator Reddit, wurde abgehört und wiederum in den vicious Info-Cirlce zurückgespeist. "In diesem Fall war die falsche Information, die Twitter aus dem Scanner hatte, die die Polizei, die der Scanner abhörte, wiederum als falsche Information aus Twitter hatte. Damit schloss sich die Rückkopplungsschleife falscher Informationen. Und tatsächlich tauchten auch die falschen Namen von Verdächtigten im Internet auf ...", schreibt Slate. Was in dem Fall aber dazu führte, dass hier die Namen zweier völlig Unbeteiligter als derjenigen kursierten, welche die Polizei angeblich suchte, ja, es gab sogar selbstgebastelte Fahndungsseiten, auf denen hymnisch zu lesen stand: "Keine Sorge, FBI, das Internet wird dieses Ding in nullkommanix gelöst haben."

Slate.com titelte daraufhin: "Verfolgungsbehörden und Social Media waren in dieser Woche unangenehme Bettgenossen. Zeit, daraus zu lernen?"

Wie ein "Wanted Men"-Poster

Um diese "Bettgenossenschaft" entspinnt sich seitdem eine Kontroverse mit völlig unterschiedlichen Standpunkten. Auf der einen, der Seite der Befürworter dieser Kohabitation, steht Wired.com.

Noch bevor der zweite Verdächtige festgenommen war, sprach Wired schon von der "modernen Fassung einer alten Story". Die Polizei sei immer auf Tipps aus der Bevölkerung angewiesen gewesen, der Aufruf der FBI-Beamten an die Bevölkerung nach den Anschlägen von Boston, doch bitte alle erdenklichen Daten zu den Geschehnissen einzureichen, sei einer Bitte an Augenzeugen vergleichbar, sich doch zu melden.

Und als das FBI selber Bilder der Gesuchten ins Netz stellte, sei das auch nichts anderes als ein "Wanted Men"-Poster gewesen, nur eben jetzt digital. Und dass die Polizei Bostons während der Suchaktionen selber fleißig getwittert habe, habe dem Aufbau von Vertrauen gedient und habe schließlich eine "neue Avenue an Kommunikation" eröffnet, ein Angebot, das auch mit dem Vertrauen der "Community" belohnt worden sei, die Boston-Police habe nun mehr als 200.000 neue Twitter-Follower, zitiert Wired Yael Bar-Tur, eine Social-Media-Beraterin der Polizei.

Letztlich, so Wired, habe man erleben dürfen, dass ein neues Modell der Verbrecherjagd entstanden sei, dessen größtes Problem wohl in der in kürzester Zeit eintreffenden und zu verarbeitenden Datenmenge liege.

Völlig anders, nämlich besorgt um Demokratie und Bürgerrechte, äußern sich dagegen zwei Artikel auf Slate.com: "Um es milde zu sagen, dies war eine schlimme Woche für die Demokratie und den öffentlichen Diskurs. Seit (den Bomben-Attentaten) haben wir einen massiven nationalen Freakout erlebt. (...) Wir haben erlebt, dass berühmte Fernsehsender basale Fakten vermurksen. (...) Wir haben gesehen, wie die berühmten Crowdsourcing-Fähigkeiten von Reddit zu sich selbst verstärkendem Massenwahn degenerierten, in denen sich ein paar Leute mit den Polizei-Kompetenzen von zuviel "CSI"-Konsum selbst zur Überzeugung hochschaukelten, ein verschwundene College-Studenten sei der Bombenverdächtige. (...) Worüber ich rede, ist das Medien-Spektakel der Angst und Unvernunft, das von TV, News-Sites und Social Media losgetreten wurde, die nationale Hysterie, die einen zweifellos brutalen Akt, der von zwei Verlierern (...) begangen wurde, als 'existentielle Bedrohung' (...) verkaufte."

Der "Terrorist in unserer Mitte"

Noch kritischer ist dieser Kommentar auf Slate.com: Alles, was jetzt groß gefeiert werde, hätte man im vordigitalen Zeitalter auch tun können, nur langsamer.

"Wo ist also hier der Mehrwert? Wie können die gewaltigen Ausgaben, die zudringlichen Überwachungspraktiken und die Eindämmung unserer Bürgerrechte durch die Ereignisse der letzten Woche gerechtfertigt werden? (...) Wir haben nun tatsächlich einen "Krieg gegen den Terror", der alle Nachrichten und all unsere Handlungen durchdringt. Von da ist es dann nur noch ein kleiner Schrtt zur Geschichte vom "Terroristen in unserer Mitte", die von einer stumpfsinnigen Medienmaschine konstruiert wird. Angeheizt wird das alles durch die endlosen 'News Alerts' des Verfassungsschutzes und von bereits zwei Präsidenten-Apparaten (Bush und Obama, Anm. Autors), die überall nur noch böse Ausländer vermuten. In anderen Worten, was sich geändert hat, ist die prävalente Angstmacherei des "Kriegs gegen den Terror", die gemeinsam mit den Milliarden-Ausgaben, die zu seiner Führung gerechtfertigt erscheinen, der Jahrhunderte alten Geschichte des Verbrechens einen neuen Rahmen geben."

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