Anschlag in Manchester:Draufhalten? Oder lieber nicht?

Anschlag in Manchester: Der Moment, als die Stimmung kippt: Konzertbesucher flüchten aus dem Inneren der Manchester Arena.

Der Moment, als die Stimmung kippt: Konzertbesucher flüchten aus dem Inneren der Manchester Arena.

(Foto: Twitter @HANNAWWH)

Die ersten Bilder von Attentaten sind mittlerweile immer Handyvideos. Es ist ein modernes Dilemma: Ist das pietätlos? Oder können solche Aufnahmen sogar helfen?

Von Kathleen Hildebrand und Juliane Liebert

Das Erste, was am Morgen nach dem Attentat in Manchester zu sehen war - jedenfalls auf der Webseite des Guardian - war ein Handyvideo. Zwei Konzertbesucherinnen hatten offenbar kurz vor der Explosion im Foyer der Konzerthalle angefangen zu filmen, das Konzert war gerade vorbei, sie waren noch in der Halle. Es ist kaum etwas von dem zu erkennen, was vor der Halle passiert. Aber man hört den Knall und man spürt beim Ansehen, wie die Stimmung in der Halle innerhalb weniger Augenblicke kippt: von fröhlicher Entspanntheit in Zweifel, schließlich Panik. Dann bricht das Video ab.

Wieder ein Handyvideo also, das Menschen von schrecklichen Situationen gemacht haben. Wie das Video nach dem Autounfall auf dem Times Square, wo Passanten Verletzte filmten. Wie das von den drei jungen Männern in der niedersächsischen Kleinstadt Bremervörde, die, nachdem ein Auto in eine Eisdiele gefahren war, so aggressiv versuchten, die Opfer zu filmen, dass sie mit Polizeibeamten in ein Handgemenge gerieten. Sie wurden deshalb zu Haft- und Geldstrafen verurteilt. Seit einiger Zeit behindern Gaffer so häufig nach Unfällen die Rettungsarbeiten, um Aufnahmen zu machen, dass Politiker härtere Strafen fordern. Handyfilmer sind in Verruf geraten.

Handyvideos als Werkzeug der Demokratie

Aber am Tag nach dem Manchester-Attentat war die Lage anders. Früh rief die Polizei dazu auf, Konzertbesucher mögen doch bitte Handyvideos und -fotos des Abends auf einer Seite der Polizei hochladen. Um den Tathergang zu rekonstruieren und mögliche Täter zu identifizieren, können private Aufzeichnungen hilfreich sein. Überwachungskameras sehen eben nicht alles aus jedem Blickwinkel.

Der Aufruf der Polizei von Manchester war nicht der erste dieser Art. Nach dem Amoklauf am Münchner Olympia-Einkaufszentrum gab es einen. Nach dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Und nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht.

Handyvideos haben derzeit also offenbar einen ambivalenten Status: Ausdruck von Schamlosigkeit und nützlich zugleich. Dass Bilder von Verletzten und Toten nach Unfällen überhaupt gemacht werden, ist irritierend. Es mag nicht grundsätzlich gegen das Gesetz sein, aber ein krasser Eingriff in die Privatsphäre der Opfer und deren Angehöriger ist es doch. Dann wieder können Aufnahmen eines Geschehens bei der Aufklärung von einem Verbrechen helfen, auf das der Filmende vielleicht tatsächlich "gegafft" hat. Das ist die technische Seite des Dilemmas.

Zugleich geht man nicht zu weit, wenn man Handyvideos als Werkzeug der Demokratie bezeichnet. Dass sie emanzipatorische Wirkung haben können, hat in den USA die öffentliche Diskussion über Polizeigewalt gezeigt. Seit beinahe jeder ein Smartphone hat, filmen Bürger oft mit, wenn sie oder andere von Polizisten angehalten werden. Es gibt furchtbar anzusehende Aufnahmen von Amerikanern, oft Schwarzen, die von Polizisten verprügelt werden, obwohl sie längst Handschellen tragen. Manchmal sind sie einfach nur in eine Verkehrskontrolle geraten.

Auch der Fall des 50-jährigen Afroamerikaners Walter Scott aus dem Jahr 2015 wurde durch das Handyvideo eines Passanten bekannt. Der hatte gefilmt, wie dem fliehenden - unbewaffneten - Scott mehrfach von einem Polizisten in den Rücken geschossen wurde. Außerdem war zu sehen, wie der Polizist offenbar versucht, seinen Elektroschocker neben dem Toten zu platzieren. Womöglich, um einen Kampf vorzutäuschen. Die Aufnahmen sorgten für große Empörung.

Der gesellschaftliche Umgang mit den Videos muss neue Regeln finden

Auch in Deutschland ist das Bewusstsein für das bürgerrechtliche Potenzial von Handyvideos gewachsen. Das Bundesverfassungsgericht entschied 2015, dass Polizeikräfte nicht ohne Weiteres die Personalien von Bürgern aufnehmen dürfen, die einen Polizeieinsatz filmen. Zwei Teilnehmer einer Demonstration in Göttingen hatten dagegen geklagt, dass ein Beamter - der die Demonstranten anlasslos gefilmt hatte - sie beim "Zurückfilmen" nach ihren Personalien gefragt hatte.

Diese Entscheidung ist wegweisend, weil sie das Kräfteverhältnis zwischen Bürger und Staatsgewalt geraderückt. In einer Zeit, in der öffentliche Plätze so stark überwacht werden wie nie zuvor, liegt das Monopol des Filmens dank Smartphones nicht mehr nur auf einer Seite. "Im deutschen Recht ist es kein Problem, einen Polizeieinsatz zu filmen", sagt Sven Adam, der Rechtsanwalt, der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erstritten hat. "Es gibt keine Regelung, die das verbietet. Es gibt aber die Persönlichkeitsrechte der einzelnen Polizeibeamten. Wenn Sie Porträtaufnahmen von einzelnen Polizeibeamten machen und diese im Internet veröffentlichen, ginge das nicht, denn das wäre ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der einzelnen Beamten und ein Verstoß gegen das Kunst- und Urhebergesetz. Man darf aber Videos von Einsätzen oder Ereignissen auch im Internet hochladen, solange keine Gesichter zu erkennen sind."

Die Smartphone-Kamera wird nicht wieder verschwinden

Natürlich ist das ethisch ein weiter Weg: vom Draufhalten auf blutende Opfer eines Unfalls oder Attentats hin zur berechtigten Dokumentation von Polizeieinsätzen. Aber eines ist klar: Die Smartphone-Kamera wird nicht wieder verschwinden. Sie ist Teil des öffentlichen Lebens geworden, im Guten wie im Schlechten. Deshalb muss, wie immer bei technischen Umbrüchen, auch der gesellschaftliche Umgang damit neue Regeln finden.

So, wie das Gaffen bei Unfällen geächtet, wenn auch nicht verboten ist, sollte man auch aggressiven Handyfilmern, die nur Leid und Blut aufzeichnen wollen, zeigen, dass das nicht in Ordnung ist. "Wenn dem Filmenden auch noch nachgewiesen werden kann", sagt Rechtsanwalt Sven Adam, "dass er, statt zu filmen, in der Situation hätte helfen können, indem er Rettungskräfte benachrichtigt hätte, ist er im Bereich der Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung." Gerade in größeren Gruppen kann das passieren. Man denkt da als Einzelner leicht: Sind ja so viele hier, es wird sich schon jemand anderer kümmern.

Jenseits des Rechts wird es schwer sein, Regeln zu formulieren für den Umgang mit der immer noch jungen Möglichkeit des ständigen Filmens. In ungewohnten Situationen ist es zu einer Form von konzentrierter Wahrnehmung geworden. Vielleicht kann man aber- als Versuch einer Regel - Folgendes versuchen: Je näher man einem Opfer mit der Kamera kommt, je stärker sich der Fokus vom Gesamtgeschehen weg und auf einen einzelnen leidenden Menschen richtet, desto wahrscheinlicher ist es, dass man gerade die Grenzen von Anstand und Privatsphäre überschreitet. Und das Handy wegpacken sollte.

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