Anschlag auf Scheich Jassin:Selbstverteidigung oder Mord?

Israel rechtfertigt seine Praxis des gezielten Tötens mit der Selbstverteidigung und dem Krieg gegen den Terror. Aber wenn sie werden wie der Feind, um ihn zu schlagen, setzen sich Rechtsstaaten selbst Schachmatt.

Von Stefan Ulrich

Die Geschichte kennt Beispiele, dass diese Strategie des Enthauptungsschlags aufgehen kann - die Schlacht von Hastings etwa. Damals, am 14. Oktober 1066, brandeten die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer den ganzen Tag lang erfolglos gegen die Truppen des englischen Königs Harold Godwinson an.

Harold hielt sich - von einer Leibgarde gedeckt - im Hintergrund und dirigierte von dort seine Kämpfer. Schließlich gab Wilhelm den Befehl, Harold direkt anzugreifen. Ein Pfeil tötete den König, seine Soldaten flohen, die Schlacht war entschieden. Wilhelms Schachzug hatte den Normannen viele weitere Opfer erspart.

Scharon suggeriert

Auch Israels Premier Scharon versuchte sich nun an dieser Strategie. Er rechtfertigte die Tötung des Hamas-Führers Scheich Jassin damit, das Leben der Israelis zu schützen. Scharon suggeriert, sein Land befinde sich im Krieg gegen den Terror und in diesem Krieg sei alles erlaubt - auch die gezielte Vernichtung des feindlichen Führers. Doch seine Strategie ist fragwürdig.

Zum einen, weil die Tötung Scheich Jassins dessen Anhänger nicht entmutigt, sondern zu noch mehr Gewalt aufstachelt. Zum anderen, weil der Rechtsstaat Israel mit solchen Enthauptungsschlägen in Gefahr gerät, auf eine Stufe mit seinen Feinden zu sinken.

Israels Politiker sehen das anders. Sie wähnen sich im Recht - im Recht auf Selbstverteidigung. Schon der frühere Premier Ehud Barak behauptete: "Das Völkerrecht erlaubt es, jemanden zu töten, von dem mit Sicherheit feststeht, dass er einen Anschlag gegen israelische Ziele vorbereitet." Das war vor drei Jahren. Seither ist die Tötung mutmaßlicher Extremisten offizielle Regierungspolitik geworden. Die Behauptung aber, diese Politik sei mit dem Völkerrecht vereinbar, vertritt Israel nahezu exklusiv.

Eine Schwäche der israelischen Argumentation liegt schon beim Ausgangspunkt, dem Selbstverteidigungsrecht. "Israel rechtfertigt so ziemlich alles, was es tut, mit Selbstverteidigung", kritisiert der Frankfurter Völkerrechtler Michael Bothe. Dabei erkenne die UN-Charta das Selbstverteidigungsrecht nur an, "wenn ein Staat gegen einen anderen militärische Gewalt einsetzt".

Attentate sind Verbrechen

Die Gewaltakte der Hamas-Aktivisten aber fallen nicht in diese Kategorie. Sie erreichen zudem (noch) nicht die Schwelle zum bewaffneten Konflikt, zum Krieg im Sinn des Völkerrechts, bei dem Kombattanten auf Kombattanten schießen dürften. Die Attentate sind vielmehr Verbrechen von Polit-Kriminellen, die mit dem Strafrecht zu bekämpfen sind. Und die Strafgewalt übt im Gaza-Streifen Israel aus.

Das Verhältnis zwischen Besatzern, den Israelis, und Besetzten, den Palästinensern, wird völkerrechtlich durch die Vierte Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen geregelt. Demnach muss Israel für angemessene Lebensverhältnisse sorgen und sich als Quasi-Regierung um Sicherheit und Ordnung kümmern. Die Besatzer dürfen dabei natürlich auch für ihre eigene Sicherheit sorgen - sie müssen dies aber mit rechtsstaatlichen Mitteln tun. Außergerichtliche Hinrichtungen gehören nicht dazu.

Zum gleichen Ergebnis führen die Menschenrechte. So ist Israel dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beigetreten, wo bestimmt wird: "Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden." Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren aber sind willkürlich, konstatiert der Bayreuther Völkerrechtler Daniel Khan. "Daran ändert sich auch nichts, wenn solche Tötungen zur offiziellen Regierungspolitik gemacht werden." Das humanitäre Völkerrecht erlaube die Todesstrafe nur unter engen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen.

Scheich Jassin hätte demnach als Rädelsführer der Hamas zunächst der Prozess gemacht werden müssen.

Israel könnte sich freilich darauf berufen, es habe in einer Extremsituation gehandelt, vergleichbar dem Fall des so genannten finalen Todesschusses. Danach darf die Polizei etwa einen Geiselnehmer durch Scharfschützen töten lassen, wenn sich nur so die Ermordung der Geiseln verhindern lässt.

Durfte demnach auch Scharon den Terror-Inspirator Jassin töten lassen, weil dieser eine ständige Todesgefahr für Israel bedeutete? Nein, urteilen Bothe wie Khan. Die Attacke auf Jassin, bei der mehrere andere Menschen ums Leben kamen, sei nicht das letzte Mittel gewesen. Die Israelis, die den Gaza-Streifen kontrollieren, hätten Jassin durch ein Spezialkommando ergreifen können.

Globalisierung des Bösen

Zweifel bleiben - und treiben auch die Völkerrechtler um. Die Regeln des Krieges wurden für Konflikte zwischen Staaten konzipiert. Sie scheinen nicht mehr in eine Zeit zu passen, in der heimatlose Banden ganze Städte attackieren. Von einer "Globalisierung des Bösen" spricht Khan. Die soziologische Basis des Völkerrechts verändere sich. "Es kann doch nicht sein, dass man sich gegen den Staat Nauru verteidigen dürfte, nicht aber gegen Terroristen mit Atombomben."

Gleichzeitig wirken auch die Regeln des nationalen Strafrechts überfordert. Al-Qaida- oder Hamas-Täter bilden eine andere Kategorie als gewöhnliche Verbrecher. Schon wird vorgeschlagen, eine neue Rechtskategorie für den Kampf gegen den Terror zu entwickeln, mit Rechten und Pflichten, die sich vom klassischen Völkerrecht und vom Strafrecht unterscheiden.

Mord und Folter tabu

"Ich halte diese Diskussion für gefährlich", wendet Bothe jedoch ein. Die Grenzen staatlichen Zugriffs auf die Bürger, wie sie sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten entwickelten, drohten zu fallen. "Und dann bekommen sie so schreckliche Debatten, wie jene, ob Folter gerechtfertigt ist."

In der Tat muss Demokratien ein totaler Kampf gegen den Terror verwehrt bleiben. In welchem Rechtskreis sie sich auch bewegen - Mord und Folter sind tabu. "Wir sollten werden wie der Feind, um ihn zu schlagen", lässt die Schriftstellerin Christa Wolf ihre Kassandra sagen. Gehen die Rechtsstaaten auf dieses Motto ein, dann setzen sie sich selbst Schachmatt.

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