In gewisser Weise hat der Massenmörder erreicht, was er wollte. Er hat zuerst durch seine monströse Tat globale Beachtung erzielt. Die Bilder aus Oslo und von der Ferieninsel verbreiteten sich mit der heute üblichen Geschwindigkeit über TV-Sender, Smartphones und Computer. Als die Polizei dann, bald nach seiner Verhaftung, seinen Namen veröffentlichte, brach die zweite Welle der Aufmerksamkeit los. Wie von ihm geplant, findet seitdem jeder, der es finden will, sein "Manifest 2083" im Netz. Dies führte dazu, dass seinem Namen jene Form der Identität zugemessen wurde, die er sich selbst in seinem Universum zwischen Kunstdünger, Der-große-Diktator-Uniformen und Lacoste-Hemden geben wollte.
Mit seinen Opfern hat der Massenmörder kein Mitleid. In Norwegen herrscht nach den Bombenanschlägen in Oslo und den Ereignissen auf der Insel Utøya Trauer.
(Foto: AFP)Auf der ganzen Welt beschäftigen sich nun Kommentatoren, Analytiker und Blogger in Medien aller Art mit seinem Manifest. Es wird sehr ernst genommen, auch in der Süddeutschen Zeitung, so als handele es sich um einen wichtigen Grundlagentext, dessen Exegese wenn nicht das Verständnis des Unmenschlichen an und für sich fördert, so doch wenigstens die Durchdringung der Parallelwelt, aus der heraus der Massenmörder schoss.
Natürlich nähern sich die Kommentatoren, die gebildeten zumal, dem Manifest aus der Distanz des Entsetzens, legen aber, je nach Interessengebiet, dennoch dar, wie und warum sich der Mordschütze für einen Tempelritter hält, was ihn mit Thomas Hobbes oder John Stuart Mill verbinden könnte und wie sein Expertentum in Sachen Anthrax oder Chemiewaffen einzuschätzen ist.
Der Verbrecher hat mit seinem digitalen Konvolut durchaus bewusst all jenen Zugang geschaffen, die es gewohnt sind, nach der Lektüre von Texten über Menschen und Dinge zu urteilen. Letzteres ist ein Kriterium, wenn auch nicht das einzige, das unabdingbar zum Intellektuellen gehört. Das Durchdenken und Interpretieren von Geschriebenem ist genuin eine deutlich intellektuellere Tätigkeit als das Schreiben von Texten. Die Wahrheit dieses Satzes lässt sich nicht nur sekündlich im Internet erkennen, sondern auch an so unterschiedlichen Skripten wie dem Mord-Manifest oder jenen Ausarbeitungen über Verschwörungen und Weltlösungen, die man als Redakteur oder Lektor regelmäßig per E-Mail oder Einschreiben zugestellt erhält.
Weil auf die Intellektuellen und ihre Instinkte - kein Widerspruch! - Verlass ist, haben sie in ihren ersten Reaktionen nach Oslo sich gegenseitig Versäumnisse vorgeworfen (typisch dafür die Attacken der Medienkritiker auf die Terrorexperten). Mittlerweile hat sich die Debatte weiterentwickelt. Da gibt es einerseits die Nährboden-Diskussion, die jenem Muster folgt, das die Älteren noch aus den Zeiten der RAF kennen. Und anderseits läuft die philologische Pathologie des Manifests und all seiner möglichen Verwandten.
Nun ist es nicht sehr abseitig, das Manifest als eine Verlängerung des Terroraktes zu interpretieren. In seiner Eigenschaft als nun doch ernsthafter Psychopath hat der Mann einerseits getötet um des Tötens willen. (Was, wenn nicht mindestens eine Persönlichkeitsstörung, ist die Erschießung einiger Dutzend Leute aus nächster Nähe zum Zwecke der Rettung Norwegens und des Christentums?) Andererseits behauptet er, sich nicht schuldig gemacht zu haben, weil die Welt eben so sei, wie er sie sehe. Das Manifest gibt seine Weltsicht wieder. Es ist Plan und Begründung des Massenmords.
In Norwegen, aber nicht nur dort, gibt es genau deswegen nicht wenige Menschen, die verlangen, dass man den Verbrecher weder im Bild zeigen noch seine Gedanken verbreiten sollte. Dies ist bedenkenswert, obwohl die Motivation solcher Forderungen durchaus zwischen Moral und Magie changiert. Das Moralische ist in dem schon erläuterten Sinne klar: Für den Mörder gehören Tatplan, also Manifest, und Tat untrennbar zusammen. Wenn beide (oder eines von beiden) allerdings keine Öffentlichkeit fänden, wäre ihre Wirkung in den Augen des Täters ungleich geringer.