Stockholm:Nobelpreis für Literatur geht an Annie Ernaux

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux

"Ethnologin ihrer selbst": Annie Ernaux im Mai dieses Jahres bei den Filmfestspielen in Cannes, wo die Schrifstellerin ihre autobiografische Dokumentation "The Super 8 Years" vorstellte.

(Foto: Julie Sebadelh/AFP)

Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. Das hat die für den Preis zuständige Schwedische Akademie in Stockholm bekanntgegeben.

Den Literaturnobelpreis 2022 erhält die französische Schriftstellerin Annie Ernaux (82). Das teilte das Nobel-Komitee am Donnerstag in Stockholm mit. Die vor allem mit biografischen Texten bekannt gewordene Ernaux erhalte die Auszeichnung "für ihren Mut und ihre klinische Schärfe, mit denen sie die Wurzeln, die Entfremdung und die kollektiven Grenzen persönlicher Erinnerung" thematisiere, sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Pressekonferenz zur Bekanntgabe des Preises. Man habe Ernaux telefonisch noch nicht erreichen können, so Malm. Dotiert ist der Preis in diesem Jahr mit 10 Millionen Kronen (920 000 Euro).

Geboren 1940 im kleinen Ort Lillebonne in der Normandie, habe Ernaux schon früh mit der vielfältigen Erkundung ihrer Umgebung begonnen, erklärte die Akademie. In ihrem Werk befasse sie sich mit schwierigen Themen wie Scham, illegaler Abtreibung oder der Wahrnehmung von Konventionen. In ihrer Erinnerungsarbeit knüpfe sie an die Tradition Marcel Prousts an und führe diese zugleich in die heutige Zeit. Ernaux gilt als eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Zu ihren auch in Deutschland bekannten Werken zählen "Der Platz", "Erinnerung eines Mädchens" und "Die Jahre". Sie selbst bezeichnete sich einmal als "Ethnologin ihrer selbst". In diesem Jahr stellte sie zudem bei den Filmfestspielen von Cannes ihre autobiografische Dokumentation "The Super 8 Years" vor.

Eines ihrer jüngsten auch in Deutschland erschienenen Werke trägt den Titel "Das Ereignis". Das fast autobiografische Buch handelt von den fast schon grausamen Versuchen der Autorin abzutreiben, in einer Zeit, in der die Abtreibung noch als unmoralisch und kriminell betrachtet wurde. Verfilmt wurde die Geschichte von Audrey Diwan, die dafür im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig erhielt. Die über zwanzig Bücher der Schriftstellerin lesen sich wie ein Selbsterkundungsprojekt. Wie sie selbst sagt, versucht sie ihre persönlichen Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis zu finden, denn für sie sei ein "Ich" nicht ohne die anderen und ohne Geschichte denkbar. Und so gehen ihre Geschichten über ihre persönlichen Erlebnisse hinaus; sie betten sich ein in kollektive Erfahrungen, die durch gesellschaftliche Zwänge und Ereignisse die "Ichwerdung" beschränken.

Vor einem Jahr überraschte die Schwedische Akademie weite Teile der interessierten Öffentlichkeit, als sie mit Abdulrazak Gurnah einen Autor kürten, der vielen unbekannt war.

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