"Annette" im Kino:Ein Gedicht

Kinostart - 'Annette'

"We love each other so much" singen die Liebenden: Adam Driver und Marion Cotillard in "Annette".

(Foto: Alamode/dpa)

Wer will schon perfekte Filme? Was wir brauchen, sind bewohnbare Träume. Zum Beispiel das verstörende Kinomusical "Annette" mit Adam Driver und Marion Cotillard.

Von Juliane Liebert

Eigentlich gibt es nur einen guten Grund, ein Filmmusical zu machen: Wenn es die einzige Chance ist, die Wahrheit zu sagen, ohne dafür getötet zu werden. Gefällige Liedchen trällernde Schauspieler, die vor opulenten Dekors durch minutiös durchchoreografierte Plansequenzen hüpfen, sind doch niemandem zumutbar. Vergebt uns, Fred Astaire und Judy Garland. Aber so wie Plastiktüten die Weltmeere zumüllen, erstickt auch die Kunst allzu schnell an unmotivierter Künstlichkeit. Dann ähnelt sie der Olimpia aus E.T.A. Hoffmanns "Sandmann". Ein Automat, dessen Grazie allein in den Augen - "Sköne Oke" - des Psychotikers liegt.

Andererseits, was immer sich unter Realität alles verstehen lässt, ein Jammertal ist sie in jedem Fall. Und manchmal erscheint eine Babypuppe als einziger Ausweg. So ungefähr muss sich das Leos Carax gedacht haben, als er "Annette" in Angriff nahm. Ob dabei die Wahrheit und sein Leben auf dem Spiel standen, das weiß nur der Gott des Kinos. Aber wenn man Carax eines zugestehen muss, dann wohl, dass er jeden seiner Filme gedreht hat, als wäre es so. In "Die Liebenden von Pont-Neuf" (1991) lachen Denis Lavant und Juliette Binoche minutenlang ein hysterisches Maschinengewehrlachen und tanztoben über die aufwendig als Kulisse nachgebaute älteste Brücke von Paris. In "Holy Motors" (2012) beißt ein bizarres Wesen in grünem Anzug, das sich mutmaßlich "Merde" nennt, der Assistentin eines affigen Modefotografen die Hand ab, um schließlich, den Kopf in Eva Mendes' Schoß gekuschelt, mit erigiertem Penis einzuschlafen.

Die Musik wird gnandenlos durchexerziert: Henry singt sogar, wenn er seine Frau oral befriedigt

Jetzt also ein Film, dessen Titelfigur für gut anderthalb Stunden von einer engelsgleich singenden Holzpuppe mit abstehenden Ohren gespielt wird. Annette ist die Tochter von Henry (Adam Driver) und Ann (Marion Cotillard). Er Comedian, sie Opernsängerin. Er tut, was er tut, um - frei nach Oscar Wilde - die Wahrheit sagen zu können, ohne dafür getötet zu werden. Behauptet er jedenfalls. Sie stirbt jeden Abend vollendet artifiziell auf der Bühne. Um ihr Publikum zu retten, sagt sie, und man glaubt ihr unbedingt. "We love each other so much", singen die Liebenden in leicht schmerzgedimmter zärtlicher Melodie, die als Leitmotiv aus dem stilsicher durchkomponierten Werk der amerikanischen Glam-Pop-Veteranen Sparks leuchtet.

Kinostart - 'Annette'

Opernsängerin Ann stirbt jeden Abend vollendet artifiziell auf der Bühne: Marion Cotillard in "Annette".

(Foto: Alamode/dpa)

"Annette" wird in Songs, musikalischen Miniaturen und Stille erzählt. Strukturell also mehr Oper als Film mit Musiknummern. Henry singt sogar, während er Ann oral befriedigt, vertonter Orgasmus inklusive. Jawohl, hart an der Grenze zur unfreiwilligen Komik. Aber damit ist Carax in seinem Element, denn er hat schon immer das Lächerliche und Groteske gesucht, um ihm eine Schönheit und Liebe zu entlocken, die auch den größten Zweifler ins Herz trifft. Jedenfalls gilt das für die männlichen Protagonisten. Sein Alex muss in "Pont-Neuf" die meiste Zeit humpeln, weil er in der ersten Szene von einem Auto überfahren wird. Diesen unförmigen Gang zitiert Adam Driver einmal, meint man, als er sich zu seiner Show als "The Ape of God" in grünem, entfernt an M. Merdes Sakko erinnernden Boxerbademantel durch eine Wand aus Kunstnebel auf die Bühne schleppt. Die Comedy-Acts sind die einzigen Szenen, in denen sich gesungene Passagen mit gesprochenen mischen. Aber nicht deshalb gehören sie zu den stärksten, sondern wegen ihres perfekten Timings, der subtil bewegten Kamera, wegen des abgründigen Witzes und weil Driver absolut fokussiert spielt. Damit werden sie zu Reflexionen über die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst, ihr Verhältnis zur Lebenswirklichkeit und die Verwundbarkeit wie Monstrosität sowohl des Künstlers als auch des Publikums.

Nichts daran ist verkopft, sie sind schlicht genau beobachtet und gekonnt umgesetzt. Henry McHenrys erster Auftritt als Comedy-Star schließt unmittelbar an die Eingangssequenz an, die - nach der Anweisung aus dem Off, bis zum Ende des Dramas weder zu furzen noch zu atmen - zunächst Carax mit seiner Tochter im Control Room eines Studios zeigt. Die Band stöpselt ihre Instrumente ein. Elektrischer Krach, ein paar Testakkorde. "So may we start?", lautet die erste Frage des Regisseurs, die über eine aufsteigende kleine Septime zum Tune wird. Musiker, Hauptdarsteller, Crew formieren sich und marschieren aus dem Studio auf die Straße, während sie im Chor das zu kleine Budget beklagen, aber dennoch eine Story ohne Tabus versprechen.

Ann erlebt einen verstörenden, aber auch komischen "Me Too"-Albtraum

An der nächsten Kreuzung steigt Marion Cotillard, nunmehr Opernstar, in einen SUV, um sich zu ihrem Konzert kutschieren zu lassen. Adam Driver düst als dunkler Ritter auf dem Motorrad zu seinem Auftritt. Es ist, als würde man zugleich von außen und innen in die Fiktion eintreten. In ein großes Spiel und bitteren Ernst, präsentiert als Happening. Die ersten zwanzig Minuten von "Annette" sind nahezu ideales Kino. Allein dafür hat Leos Carax den Regiepreis verdient, mit dem er dieses Jahr in Cannes geehrt wurde, mehr aber noch dafür, dass er eben kein Meisterregisseur ist, sondern ein Dichter. Andere machen Body Horror, wenn sie über die Leinwand zur Handgreiflichkeit durchdringen wollen. Er hat das Genre der Körperpoesie wiederentdeckt. Cineasmus liegt ihm nicht, sagt er immer wieder in Interviews. Man müsse kein Filmjunkie sein, um das Kino zu lieben. Wenn Peter Handke von Homer und Tolstoi kommt, dann kommt Leos Carax von Chaplin und Méliès.

Einen Reim auf den unzulänglichen Körper macht er sich auch dort, wo sich der Körper in schwingende Luft auflöst. Die Lieder in "Annette" sind live aus den Szenen heraus gesungen. Man hört Cotillards etwas schüchterne Intonation, Drivers leicht belegte Stimme, kleine Unsauberkeiten, das Rauschen der Atmo. Spontaner Gesang berührt unmittelbar. Umso stärker im Kontrast zum künstlichen Musiktheater-Setting. Selbst Musicalhasser werden entwaffnet. Und ins Drama hineingezogen. Es kommt, wie es kommen muss. Auf das Traumpaar fallen Schatten. Ann erlebt einen verstörenden, aber auch ziemlich komischen "Me Too"-Albtraum mit ihrem Mann auf der Anklagebank. Henry verliert derweil die Fähigkeit, lustig zu sein. Er vergrault sein Publikum mit geschmacklosen Fantasien. Schließlich brechen die beiden mit ihrer Holztochter Annette zu einer Yacht-Reise auf, die zwangsläufig in den Hurrikan führt. Viel mehr darf man eigentlich nicht verraten.

Ab hier entpuppt sich das Ganze als Tragödie, und die wird überraschend gnadenlos durchexerziert. Allerdings ohne Katharsis. Annette, nun keine Holzpuppe mehr, sondern ein Mädchen aus Fleisch und Blut, gespielt von Devyn McDowell, verweigert sie uns. Die zweite Hälfte des Films ist nicht ganz frei von Längen. Und die Figuren handeln derart eindeutig, dass man bang auf eine überraschende Wendung wartet. Leider vergebens. Aber wer seelischen Ausgleich braucht: Der Disney-Konzern hat der Welt ja gerade eine von Steven Spielberg luxussanierte Version der "West Side Story" zu Weihnachten geschenkt.

"Annettes" Qualitäten sind andere. Allen voran die Intelligenz des Poetischen, die das Gegenteil von smart ist. Sie darf auch mal hinken, ihrer Schönheit tut es keinen Abbruch. Wer will schon perfekte Filme? Wir brauchen bewohnbare Träume. Die hat Carax vor langer Zeit im Kino gesehen, und etwa alle zehn Jahre baut er in harter Arbeit einen neuen für uns.

Annette, F/USA 2021 - Regie: Leos Carax. Buch: Ron Mael, Russel Mael. Mit: Marion Cotillard, Adam Driver, Simon Helberg. Alamode, 141 Minuten. Kinostart: 16.12.2021.

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