Süddeutsche Zeitung

Annekathrin Kohout: "Nerds":Dienstbare Genies

Die Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout hat eine Geschichte des Nerds geschrieben. Wie konnte es so weit kommen, dass er von einer bemitleideten Randfigur zum Ideal wurde?

Von Oliver Weber

Vorurteile und Klischees sollte man hegen und pflegen - zumindest dann, wenn sie den Blick schärfen. Annekathrin Kohouts "Popkulturgeschichte des Nerds" ist ein Buch nach dieser Methode. Die Kulturwissenschaftlerin hat nicht nur unzählige Essays, Rezensionen, Filme und Serien ausgewertet, um die Verwandtschaftsgrade und Ahnenreihen der Figur des intelligenten, aber sozial isolierten Computerfreaks zu erforschen, sie erhascht auf ihrem Weg zugleich einen kurzen Blick auf eine Übergangskrise westlicher Gesellschaften, in der Subkulturen erfunden werden, die sich nicht mehr als Gegenbewegung zum verhassten Mainstream verstehen, sondern als dessen Steigerung.

Aber von vorne: Der Nerd, diese im Keller hausende, meist als schlecht gekleidet, allergiegeplagt, computerversessen, "unsozial und misanthropisch" vorgestellte Figur, ist, so zeigt Kohout, eigentlich eine recht späte Erscheinung, in deren Charakter erst einige andere Figuren einfließen mussten. Zunächst wäre da der "Square", der "Quadratschädel", das heißt der "Durschnitts- oder Büromensch", von dem sich die Beat-Generation abzugrenzen versuchte, indem sie das ungebundene, wilde und authentische Leben feierte. Der deutsche "Spießer" und "Philister" ist mit ihm verwandt. In Jugendfilmen der Fünfziger bis Siebziger muss er als "Negativfolie" herhalten, "vor der die populären Figuren erst besonders gut zur Geltung kommen": Seien es die Lederjacken tragenden Rebellen, die ihre Jugend als politisch-kulturellen Widerstand zum Leben ihrer Elterngeneration verstehen, oder seien es die Rowdys, die sich gewaltsam den Schul- und Staatsautoritäten widersetzen.

Erst als das Rebellische zur Norm für Jugendliche wird, wird der Nerd zur Randfigur

Aber der Schritt vom "Square" zum "Nerd" ist größer, als es zunächst erscheint. Er setzt, so Kohout, eine Entwicklung voraus, die weniger mit der Figur selbst als mit ihrem Umfeld zu tun hat: In dem Maße, in dem das Rebellische selbst zur sozialen Norm für jugendliche Männlichkeit wird - die coolen Jungs sind in Highschool-Filmen von nun an die selbstbewussten Sportler -, findet sich der Nerd selbst als gesellschaftliche Randfigur wieder - "vom angepassten, uncoolen Spießer zum unangepassten, unbeliebten, sozial inkompetenten Außenseiter". Statt Frauen nachzujagen oder von ihnen wegen seines Aussehens und seiner Unabhängigkeit begehrt zu werden, sitzt er lieber im Chemielabor, am Schreibtisch oder im Bastelkeller. Wie Thales, der beim Beobachten der Sterne in den Brunnen fällt und dafür von einer thrakischen Magd Spott erntet, durchkreuzt auch der Nerd immer mehr die soziale Erwartung: Er betreibt blutleere Theorie, wo alle anderen seines Alters ihre Jugend genießen.

Für Kohout bildet der Nerd bis in die Achtziger "weder eine Subkultur aus, die mit eigenen Codes versehen ist oder sich durch entsprechende Stilverbünde auszeichnet, noch ein Selbstverständnis". Der Nerd "wird in der Popkultur dieser Zeit als Figur gezeigt, die dazugehören will und sich deshalb nie selbst als Nerd bezeichnen würde". Etwas anderes, etwas Neues musste hinzukommen, um aus dem Nerd eine Sozialfigur zu machen, die der allgemeinen Bejahung fähig ist: der Personal Computer.

Schritt für Schritt zeichnet Kohout nach, auf welche Weise Bill Gates, Steve Jobs oder Steve Wozniak dem Nerd ein neues Gesicht gaben. In ihnen verbindet sich das Freakhafte und das Außenseitertum mit der alten, ästhetischen Figur des Genies. Die Garage wird zur Keimzelle künftiger Revolutionen, weil der Nerd sich hier nicht nur zurückzieht, um soziale Kontakte zu meiden, sondern dort an einer Technologie arbeitet, deren Bedeutsamkeit dereinst die Erfolge aller seiner Mitschüler übertrumpfen wird.

Als paradigmatisch hierfür erweist sich ein zehnseitiger Artikel des Journalisten Paul Ciotti aus dem Jahr 1982. Er wird mit einer Gegenüberstellung zweier Bilder illustriert. Auf dem linken "basteln Jobs und Wozniak im Schlafzimmer am Apple I herum, auf dem rechten Bild sieht man die Rückseite eines Porsches" - darunter steht: "Erinnerst du dich an mich? Ich bin einer dieser Typen, über die du in der Schule gelacht hast. Tja, heute designe ich Computer und verdiene Millionen. Also: Wer lacht zuletzt?" Der Titel des Artikels, "Rache der Nerds", ein Motiv, das in der Popkultur seitdem immer wieder aufgegriffen wird, verdeutlicht, was sich seit den Achtzigern verschoben hat: Das Isolierte des Nerds, das anfangs Spott rechtfertigte, ist plötzlich vielmehr die Bedingung der Möglichkeit, die Gesellschaft der Zukunft zu bestimmen - und so Reichtümer anzuhäufen. Damit wird der Nerd erstmals zu einer positiven Selbstbezeichnung - und zur Kultfigur.

Im Silicon Valley zeigten die Nerds den Hippies, wie eine echte Kulturrevolution aussieht

Aber Annekathrin Kohout interessiert sich nicht nur für die Genealogie des Nerds selbst. Unter Rückgriff auf theoretische Überlegungen zur Sozialfigur der Soziologen Sebastian Moser und Tobias Schlechtriemen ist der Nerd für die Autorin vor allem als Ausdruck einer spezifischen, krisenhaften Situation interessant: des ruckeligen Übergangs ins "Informationszeitalter", das sich durch einen ganz selbstverständlich "positiven Umgang mit Populärkultur" einerseits und "neuen Technikoptimismus" andererseits auszeichnet. Das Silicon Valley deutete die Nerds zu Personen um, die den dort gestrandeten Hippies zeigen, wie eine nicht bloß erträumte Kulturrevolution aussieht; dem Genie, die alte "Gegenfigur zum Rationalismus" der bürgerlichen Gesellschaft, wurde das Hyperrationalistische des Computercodes angedichtet; und speziell in Deutschland baute man den Computerfreak zum "Gegenbild" des "ermüdeten Kulturpessimismus der linksalternativen Szene" auf, der die Technik wieder "als Chance und Verheißung begreift", statt sich in endlosen hoffnungslosen Widerstandgesten zu erschöpfen.

Der veränderte Charakter des Nerds verweist somit auch auf ein neues Selbstverständnis der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich auf dem Weg ins neue Jahrtausend immer positiver auf einen Subkulturtypus bezog, der, anders als der "Square", nicht einfach Ausdruck ihrer selbst, noch, wie das Genie, der Beatnik, der Rebell oder der Hippie, sich in Opposition zu ihr befindet. Der Nerd war, diesen Schluss lässt Kohouts Buch zu, ohne ihn selbst zu ziehen, eine Sozialfigur, die ihre verbindende Kraft gerade aus dem Versprechen zog, die technische Infrastruktur der Gesellschaft in immer neue Höhen zu steigern, gerade indem sie sich ihres herkömmlichen kapitalistischen Investitionskreislaufs bedient - und sich am Ende auch nicht dafür schämt, dabei populär und reich geworden zu sein. Zwei Etiketten, die ältere Formen der Subkultur von sich zu weisen versuchten.

Schon für diesen kurzen Blick auf die kulturelle Vorgeschichte der Gegenwart lohnt es sich, "Nerds" genau zu lesen. Das Urteil gilt trotz des Umstands, dass der zweite, längere Teil des Buches das Politische seines Untersuchungsgegenstandes eher woanders zu finden meint - in hinter der Nerdfigur versteckten Männlichkeitsidealen und mit Humor kaschierten Rassismen. Und es gilt auch dann, wenn man der Diagnose der Autorin zustimmt, dass sich seit einigen Jahren eine abermalige Verschiebung andeutet, die "Nerd" zum allgemeinen Ausdruck vertieften Interesses werden lässt, sodass es heutzutage selbst problemlos erscheint, sich als "Sport-Nerd" zu bezeichnen. Aber die Analyse dieser Entwicklung wird künftigen Untersuchungen überlassen bleiben - die hoffentlich dann so ergiebig sind wie dieses Buch.

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