Buch über Anne Frank:Lückenhafte Beweisaufnahme

Buch über Anne Frank: Anne Frank bekam im Juni 1942 ein Tagebuch geschenkt, das weltberühmt werden sollte. Im August 1944 wurde sie verhaftet. Wer sie verraten hat, ist bis heute nicht geklärt.

Anne Frank bekam im Juni 1942 ein Tagebuch geschenkt, das weltberühmt werden sollte. Im August 1944 wurde sie verhaftet. Wer sie verraten hat, ist bis heute nicht geklärt.

(Foto: AFP; Collage Jessy Asmus)

Wurde Anne Frank von einem Juden verraten? Ein niederländischer Verlag hat sich nun für das Buch entschuldigt, das dies behauptet. Die deutsche Veröffentlichung ist nicht abgesagt.

Von Thomas Kirchner und Jens-Christian Rabe

Der Amsterdamer Verlag Ambo Anthos, der das Buch über die angeblichen neuen Erkenntnisse zu den Umständen der Festnahme von Anne Frank in den Niederlanden vertreibt, hat sich für die Publikation entschuldigt. In "Het verraad van Anne Frank" (Der Verrat an Anne Frank) geht es darum, dass nicht irgendein Nazi-Handlanger dem Sicherheitsdienst der Nationalsozialisten die Adressen verschiedener Verstecke genannt haben soll, darunter auch die Adresse des Verstecks der Franks. Sondern Arnold van den Bergh, Notar und Mitglied des Amsterdamer Judenrats - um sich und seine eigene Familie zu retten. Anne Frank starb später im KZ Bergen-Belsen, nur ihr Vater Otto überlebte und publizierte das Tagebuch aus dem Versteck, das seine Tochter posthum weltberühmt machte und ihre Notizen zu einem der bekanntesten Dokumente für die Grausamkeit der Nazi-Verbrechen.

Eine "kritischere Haltung" zu den dem Buch zugrunde liegenden Recherchen wäre möglich gewesen, schreibt nun Tanja Hendriks, die Verlegerin von Ambo Anthos, in einer internen E-Mail an die Verlagsautoren, über die niederländische Medien am Montag berichteten. Eine zweite Auflage, so Hendriks, werde deshalb vorerst nicht gedruckt. Man wolle zunächst eine Antwort des Untersuchungsteams abwarten "auf Fragen, die aufgetaucht sind". Sie biete allen, die sich durch das Buch angegriffen fühlten, eine Entschuldigung an. Viele Fachleute hatten die Recherche in den vergangenen Tagen heftig kritisiert. Auf Anfrage der SZ erklärte Ambo Anthos, man werde zu der Sache keinen weiteren Kommentar abgeben.

"Was sie als Quellen für die Existenz dieser Listen anführen, ist wirklich hauchdünn."

Zu dem Schluss, dass mit "85-prozentiger Sicherheit" Arnold van den Bergh derjenige war, der den deutschen Besatzern im August 1944 den Aufenthaltsort des jüdischen Mädchens Anne Frank, ihrer Familie und weiterer Personen verriet, waren Rechercheure, Historiker und Kriminologen aus den USA und den Niederlanden nach einer mehrjährigen Untersuchung gekommen. Die Recherchegruppe firmiert unter dem Namen "Cold Case Team", geleitet wurde sie von dem Journalisten Pieter van Twisk, dem Filmemacher Thijs Bayens und dem ehemaligen FBI-Agenten Vince Pankoke. Nach eigenen Angaben gingen sie in Archive und durchforsteten das Material unter anderem mithilfe von künstlicher Intelligenz. Am 16. Januar präsentierten sie ihre Ergebnisse beim amerikanischen Sender CBS in einer "60 Minutes"-Folge, einem der angesehensten journalistischen Fernsehformate der USA.

Die emeritierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin Rosemary Sullivan schrieb das Buch schließlich entlang der Recherchen, ursprünglich für den amerikanischen Verlag Harper Collins. Es wurde bereits in mehreren Ländern veröffentlicht, am 18. Januar in den Niederlanden, im Rahmen einer großen Medienkampagne. Wie viele Exemplare gedruckt wurden, konnte eine Verlagsangestellte der SZ nicht mitteilen. Ebenso wenig, ob eventuell geplant sei, die erste Auflage zurückzuziehen. Das Buch steht im Moment auf Rang vier in der niederländischen Bestsellerliste.

Buch über Anne Frank: Bislang ist "Der Verrat an Anne Frank" vorbestellbar. Doch wird es ab 22. März dann auch ausgeliefert?

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Man habe keine "smoking gun", sagte Pankoke, keinen hundertprozentigen Beweis, dass es der Jude van den Bergh gewesen sei, der Verrat begangen habe. Man habe aber eine "warme Waffe mit leeren Patronen daneben". Historiker bemängelten genau diesen Punkt: Die Ergebnisse beruhten viel zu stark auf bloßen Annahmen. Der Annahme etwa, dass van den Bergh als prominentes Mitglied des Amsterdamer Judenrats sicher über Listen mit den Adressen Untergetauchter verfügt habe. Das sei "diffamierender Unfug", sagte der Historiker Bart van der Boom, der an einem Buch über den Judenrat arbeitet. "Was sie als Quellen für die Existenz dieser Listen anführen, ist wirklich hauchdünn und viel zu wenig, um irgendjemanden weltweit als Verräter von Anne Frank zu brandmarken." Yves Kugelmann vom Otto-Frank-Fonds in Basel nannte die Ergebnisse des Teams im Gespräch mit der SZ einen "der fulminantesten Verschwörungsmythen und wirkungsvollsten Antisemitismus-Booster seit Langem".

Pieter van Twisk vom "Cold Case Team" äußerte sich überrascht über die E-Mail der Verlegerin. Er sei am Donnerstag noch bei Ambo Anthos gewesen und habe dort zu allen Kritikpunkten Stellung bezogen, zitierte ihn die Zeitung Volkskrant: "Wir stehen völlig zu unserer Untersuchung, wir können alles verantworten. Wir bleiben bei unserer Geschichte. Ist es die Wahrheit? Das wissen wir nicht sicher, aber es ist ein ziemlich plausibles Narrativ." Der Verlag habe nach dem Gespräch keine Kritik geäußert und nicht angedeutet, dass es ein Vertrauensproblem gebe, so van Twisk. "Wo das jetzt plötzlich herkommt, ist mir ein Rätsel."

Die Sache bringt den deutschen Verlag in heftigen Zugzwang

Die Reaktion des Verlags lässt vermuten, dass er durch die Veröffentlichung der E-Mail überrascht wurde. Auf seiner Website wurde das Buch am Montagmittag noch prominent beworben. Im Untertitel steht "Die bahnbrechende Untersuchung eines internationalen 'Cold Case Teams' in den Niederlanden". Ambo Anthos hatte als Rechtekäufer keinen Einfluss auf den Inhalt des Buchs. Der Verlag habe "nicht alle Details der Argumente" auf ihre "Richtigkeit und Stichhaltigkeit" überprüfen können, schreibt Hendriks in der E-Mail.

Auch der hiesige Ableger von Harper Collins, in dem das Buch unter dem Titel "Der Verrat an Anne Frank - Eine Ermittlung" am 22. März erscheinen soll, ist unter heftigem Zugzwang. Jürgen Welte, Harper-Collins-Verleger in Deutschland, wollte auf SZ-Anfrage vorerst nicht mehr als dies sagen: "Nach zwei Fachlektoraten des Manuskripts befinden wir uns gerade in einer internen Überprüfung." Der vergleichsweise späte Erscheinungstermin der deutschen Ausgabe zeige, so Welte, "dass wir mit diesem sensiblen Thema äußerst verantwortungsvoll umgehen". Die Stellungnahme wirkt nicht, als sei in seinem Haus bisher mit den Recherchen wesentlich kritischer umgegangen worden als bei Ambo Anthos.

Klar ist: Jetzt noch ein Buch herauszubringen, gegen das immer mehr gut begründete Einwände vorgebracht werden und von dem offensichtlich auch ein zentraler Co-Verleger nicht mehr überzeugt ist, erschiene äußerst gewagt. Gewichtige Gegenargumente - die zu erbringen nicht leicht sein dürfte - wären bei einem so heiklen Thema das Mindeste. Insbesondere in Deutschland. Ganz abgesehen davon bleibt die Frage, wie es sein kann, dass so brisante Recherchen von den Verlagen, die sie veröffentlichen wollen, vorab offenbar nicht wirklich geprüft werden.

Denn ob nun beabsichtigt oder nicht, bedient das Buch die Erzählung, die Juden selbst seien beteiligt gewesen am Holocaust. Dieses Narrativ war und ist im besten Fall fadenscheinig relativistisch, im schlimmsten blank antisemitisch. Schon allein deshalb führte das Buch bislang zu viel Entsetzen und Kritik. Die niederländische Bestseller-Autorin Jessica Durlacher bilanzierte in der SZ: "Vor Gericht sind 85 Prozent Wahrscheinlichkeit gleichbedeutend mit null Prozent. Vor Gericht gilt dann: Freispruch. Aber mitunter reicht viel Rauch, um an Feuer zu denken. Gut für die, die diese ,Nachricht' immer schon gerne hören wollten." Der Autor Leon de Winter sagte, "das Buch selber ist ein Verbrechen". Und im Spiegel stellte die Großnichte von Arnold van den Bergh lakonisch fest: "Jetzt ist das Stereotyp eines jüdischen Verräters wieder in der Welt. Man kann versuchen, ihm zu widersprechen, aber es wird bleiben. Und beitragen zum Judenhass überall auf der Welt."

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SZ PlusDebatte um "The Betrayal of Anne Frank"
:"Einer der wirkungsvollsten Antisemitismus-Booster"

Im März erscheint ein Buch, das behauptet, Anne Frank sei von einem Juden verraten worden. Experte Yves Kugelmann hält die Theorie für einen fulminanten Verschwörungsmythos - und für brandgefährlich.

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