Süddeutsche Zeitung

Anne Carson:Wenn man die Wörter lässt, tun sie, was sie wollen

In gleich vier neuen Übersetzungen kann man die kalauernde Gelehrsamkeit der siebzigjährigen kanadischen Lyrikerin Anne Carson kennenlernen.

Von Samir Sellami

In Anne Carsons Doppelroman-Langgedicht "Rot" schreibt eine Figur namens Frau von Hirn im Auftrag ihrer Erfinderin: "Sie kennen die alten Analogien die Prosa / ist ein Haus die Poesie ein Mann in Flammen der / ziemlich schnell hindurch rennt." Vieles spricht dafür, dass es Carson selbst ist, die da in Flammen durch das Haus der etablierten Literatur rennt und alles anzündet, was ihr in die Quere kommt. Wobei das Feuer in diesem Falle ein olympisches wäre, denn Carson ist von Haus aus Altphilologin und dieser Einfluss ist in ihren Gedichten, Essays, Reden, Übersetzungen und Opernlibretti überall zu spüren.

Neben "Rot", das bereits letztes Jahr herauskam, ist die seit Jahren als Nobelpreisträgerin gehandelte Carson in diesem Spätsommer nun gleich in drei Neuerscheinungen zu entdecken, flüssig und elegant übersetzt von Marie Luise Knott, Christina Dongowski und - herausragend - Anja Utler. Den Anfang macht "Der bittersüße Eros", ihr brillanter Debütessay aus dem Jahr 1986 über den "glieder-schmelzenden" griechischen Gott. Gleich bei Erscheinen sammelte der Text die einhellige Begeisterung der Kritik ein und fand, überraschend für das eher randständige Genre, erstaunlich viele Leser.

"Es war Sappho, die Eros als erste 'bittersüß' genannt hat. Niemand, der je geliebt hat, widerspricht ihr." Was auf die scheinbar harmlosen Eingangsworte folgt, ist ein wilder Ritt nicht nur durch die antike Literaturgeschichte. Von Sophokles und Homer über Kafka bis Kundera schauen wir dem bittersüßen Eros über die Flügel, wie er überall sein "süßes Feuer" versprüht und die Liebenden in einem Wechselbad aus Lust und Verzweiflung "mit Honig verbrennt."

Mit kleinbürgerlichen Sentimentalitäten hat Carsons Wühlen im Eros-Archiv dabei wenig zu tun, vielmehr geht es bereits hier wie in späteren Werken um Leidenschaft ohne Romantik, um Erregung ohne Psychologie. Die komplizierte Choreografie der erotischen Körper, von denen in den oft überraschend schrulligen Texten der Antike unaufhörlich die Rede ist, wird direkt umgemünzt in eine Erotik des Lesens, ganz so wie es Susan Sontag in ihrem berühmten Essay "Against Interpretation" gefordert hatte.

Die Gelehrsamkeit ist bei Carson immer mindestens unernst

Neben der lesbischen Dichterin Sappho als wichtigster Stichwortgeberin dieses literarischen Großprojekts ist in diesem Anfang auch schon die ganze Methode von Carson erkennbar. In der leidenschaftlichen Versenkung in ein einziges Wort (glukupikron, eigentlich: süßbitter) spielt Anne Carson die ganz großen Fragen von Kunst, Literatur und Leben durch und wühlt dabei unermüdlich nach Elementen, die Antike und Gegenwart unmittelbar kurzschließen. "Wenn man Wörter lässt, tun sie, was sie tun wollen und was sie tun müssen."

Carsons Lektüren strotzen vor Gelehrsamkeit und Detailwissen. Langweilig sind sie trotzdem nicht, denn es geht ihr nicht um die bildungsbürgerliche Synthese von Wissensbeständen, sondern um das Abenteuer des Lesens, in dem sich das klassische Begehrensparadox ebenso zeigt wie im außerliterarischen Leben: im flammenden Wunsch, alles verstehen, alles verschlingen zu wollen - und in der bittersüßen Erfahrung, sich dabei immer wieder den Mund zu verbrennen.

Das ist bei Carson immer mindestens unernst bis vollkommen albern, was nicht zuletzt an Carsons diesjährigen Berliner Rede zur Poesie zu sehen ist, die sie den allseits bekannten Umständen geschuldet auf Youtube hielt. Mit wechselnden Kopfbedeckungen - Strandhut, Fedora, Fliegermütze - tritt sie da wie ein Helge Schneider mit Graecum notdürftig selbstgefilmt vor dem verschwommenen Hintergrund ihrer Einbauküche auf, wirft dreizehn sehr eigensinnige "Blickwinkel auf einige Worte" (Forellen, Kopfschmerzen, Flaubert etc.), nur um am Ende wieder bei ihrem komplizierten Eingangsthema zu landen, dem Begehren: "Hätten Sie nicht auch manchmal gern ein Wort, das der Liebe die Handgelenke bricht und sie die Treppe hinunterwirft?"

Die dritte Carson-Publikation dieses Jahres schließlich versammelt unter dem passend erotischen Titel "Irdischer Durst" frühe Gedichte und aufmüpfige Prosa: Protokolle von Therapiesitzungen mit einem antiken Elegiendichter, verrätselte Stadtporträts und eine wunderbar stimmungsvolle Episodendichtung um einen Philosophenkongress und den Renaissancekünstler Perugino.

Obwohl Perugino als einer der ersten in Italien mit doppeltem Fluchtpunkt malte, blieb ihm der ganz große Erfolg verwehrt, weil ihn das unglückliche Schicksal traf, in derselben Zeit wie Michelangelo Buonarroti zu leben. Als er von einem Kloster mit einem monumentalen Freskenprojekt beauftragt wurde, die geizigen Mönche aber nicht genug vom teuren Ultramarinpigment herausrücken wollten, verfiel der umbrische Meister auf eine rachsüchtige List: "Durch konstantes Waschen der Pinsel gewann / Perugino / einen heimlichen Vorrat der Farbe, / den er später / dem Prior übergab, / um dessen Geiz zu beschämen."

Ihre gendersensible Aneignung der Antike ist ein Gegenpol zu Winckelmann und Hölderlin

Die Perugino-Episode zeugt nicht nur von Carsons notorischer Vorliebe für die Zufrüh- und Zuspätgekommenen, für die Zweit- und Drittbekannten der Kulturgeschichte des Westens, sondern mehr noch von der Überzeugung, dass Sprache ein rares und kostbares Gut ist. So kann man überall und zuletzt in der Berliner Poesierede einer begnadeten Sprachkünstlerin dabei zusehen, wie sie unermüdlich ihre Pinsel wäscht, um frische Farbpigmente für ihre immer wieder neu arrangierten Tableaus zu gewinnen. Dabei wird deutlich, dass die Poesie vor der Philosophie einen entscheidenden Vorteil hat. Sie kann sich die philosophischen Ideen in loser Folge wie wechselnde Kleider oder eben Kopfbedeckungen anziehen, um sie ungehemmt und unter freiem Himmel zur Schau zu tragen. Es geht bei Carson, das ist das Verlockende und Herausfordernde, also immer ums Ganze: die ganze Literatur, das ganze Begehren, die ganze Kultur, die ganze Antike. Und doch klafft in der Mitte dieses Werks eine Legimitationslücke, die in den letzten Jahren noch deutlicher hervortritt, da aus Carsons Pinseln nicht mehr ganz so freimütig brauchbare Farbreste herausfließen.

Obwohl ihre kombinationswütigen und gendersensiblen Aneignungen der Antike einen wuchtigen Gegenpol zu den Griechenlanden der Winckelmanns, Hölderlins und Nietzsches liefert, stellt sich daher zunehmend die Frage: Warum überhaupt noch Griechenland? Woher noch das Vertrauen in die Antike? Sind denn aus der historisch-philologischen Beschäftigung mit einer Kultur von Päderasten und Sklavenhaltern überhaupt noch Deutungsmuster für die Gegenwart zu gewinnen?

Es wäre der siebzigjährigen Carson zu wünschen, dass sie sich dieser Herausforderung zum Ende hin noch einmal entschieden stellt. Dem alten europäischen Geist noch einmal so richtig die Handgelenke brechen und ihn gewaltig die Treppe hinunterstoßen - das wäre doch ein würdiger letzter Akt eines Werks, dem man auch so schon jetzt eine Krone aufsetzen muss.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2020
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