Vor ein paar Jahren saß die Schriftstellerin Christine Angot in einem Café nahe dem Centre Pompidou. Angot ist in Frankreich ein Medienstar mit einer Passion für die ganz große verbale Ohrfeige gegen Politiker. Es sollte trotzdem ein Gespräch über das Schreiben werden, und ehe dazu die erste Frage heraus war, sagte Madame Angot mit strengem Lehrerinnenblick: "L'écrivain est archiseul." Es klang wie eine Art Gesetz, an das niemand zu rütteln hat: "Der Schriftsteller ist erzeinsam."
Allein der Stolz in der Stimme von Christine Angot war eine Botschaft: Was ahnt denn ihr von den täglichen Demütigungen und der hündischen Quälerei desjenigen, der Tag für Tag dasitzt und ein Buch schreibt? Und noch etwas reichte Angot der nicht schreibenden Welt rein: Der Schriftsteller ist allein für seine Idee zuständig, alles, was in seinen Text strömt, sind Nebenarme seiner eigenen Gedankenflut.
Nora Bossong schreibt, sie sei "einfach etwas fassungslos"
Ohne Frage ist das Pathos, das in der Gestalt des einsamen Schriftstellers daherkommt, auf dessen Schultern bestenfalls die Dämonen hocken, abgehangen. Es ist sogar ein wenig komisch. Es ist aber nicht halb so komisch wie der Satz von Annalena Baerbock, der vollständig so lautet: "Wie es so schön heißt: Keiner schreibt ein Buch alleine." Es liegt ja schon eine kleine Flunkerei in der Phrase "Wie es so schön heißt". Denn das Sprichwort "Niemand schreibt ein Buch alleine" gibt es so wenig, wie es sonst die hilfreichen Krakenarme einer seligen Schreibgemeinschaft gibt. Und die tollen Lektoren, ohne die kein Buch zwischen zwei Deckel kommen würde? Ihre Arbeit dürfte Annalena Baerbock nicht gewürdigt haben, als sie von der Vielzahl der Mitgestalter sprach.
SZ-Podcast "Auf den Punkt":Was Kanzlerkandidaten aushalten müssen
Der Wahlforscher Thorsten Faas zur Frage, wie viel Kandidatinnen und Kandidaten im Kampf ums Kanzleramt einstecken müssen.
Was sollen denn jetzt die Leser denken? Dass Literatur in einer Art Rubens-Werkstatt mit einem Dutzend gut eingestellten Mitarbeitern entsteht? Dass die Möglichkeiten des Menschen, Bücher zu verfassen, von Natur aus derart begrenzt sind, dass es einen ganzen Apparat dazu braucht? Wie es aussieht, hat sich Annalena Baerbock unter den deutschen Schriftstellern kaum Freundinnen gemacht, und wenn doch, so gehört Nora Bossong nicht dazu. Sie twitterte: "Wer jahrelang zehn Stunden täglich allein am Schreibtisch sitzt, um Bücher zu schreiben, ist einfach etwas fassungslos bei Baerbocks Äußerungen." Und es könnte sein, dass Bossongs Zorn über eine gewisse Schriftsteller-Verachtung in Baerbocks Zitat nicht von ungefähr kommt.
Von der deutschen Politik aus, das muss man im Vergleich mit Frankreich, auch mit Italien oder Spanien feststellen, gehen kaum noch Links in den Literaturbetrieb, von Einladungen zum Herumstehen auf Empfängen abgesehen. Historiker und people of age erinnern sich an Zeiten, da Schriftsteller nicht nur in Teerunden mit dem Bundespräsidenten exotische Außenansichten lieferten, sondern die politische Willensbildung mitbestimmten. Ein Großteil der Arbeit von Günter Grass bestand darin, die SPD zu sensibilisieren - einmal für die Ansichten von Grass, dann für die Politik von Willy Brandt (dem der eitle Grass freilich sehr auf die Nerven ging), schließlich für eine neue politische Redekultur. Dafür gab es sogar eine Art literarisches Sprachlabor, das "Wahlkontor deutscher Schriftsteller", in welchem neben Grass auch FC Delius, Peter Härtling und Nicolas Born Bausteine für Politikerreden bastelten.
Ihre Bücher schrieben diese Autoren alle allein, doch ein Teil ihrer sprachlichen Expertise wanderte in die Partei, die sie seinerzeit für die fortschrittlichste hielten. Derlei fruchtbringende Gesellschaften wird man im derzeitigen politischen Betrieb kaum finden. Emmanuel Macron zitierte 2017 auf der Buchmesse par cœur Walter Benjamin. Angela Merkel war beim Antrittsbesuch des Präsidenten so gerade noch der Hesse-Vers "Allem Anfang wohnt ein Zauber inne" eingefallen Und der Wahlkampfslogan der CDU, das muss man, wenn es um Sprache und Schreiben geht, erwähnen, lautet in schon wahnhafter Stumpfsinnigkeit: "Deutschland gemeinsam machen".
Gemeinsam ist ein Zauberwort der Politik. Wer für gemeinsames Handeln ist, bindet die zerfasernde Gesellschaft zusammen. Wenn Annalena Baerbock sich nun damit verteidigt, auch ihr Buch sei das Resultat einer Art Bündnis von vielen Menschen mit lauter lieben Ansichten, dann mag das für ihre politische Agenda gut (gewesen) sein. Für ihr Buch ist es ganz schlecht.
Wer mit den Ergebnissen fremder Denkprozesse publizistisch arbeitet, muss entweder Quellen anführen oder die Chuzpe des mit allen Wassern gewaschenen Textklitterers besitzen. Als Thomas Mann seinen "Doktor Faustus" veröffentlicht hatte, konnte er sich der etwas penetranten Nachstellung Theodor W. Adornos schließlich nur dadurch erwehren, dass er eine Nachschrift veröffentlichte. Um die, so schreibt Mann darin, "Bloßstellung meiner Unwissenheit im Exakten" möglichst gering zu halten, habe er in Adorno einen "teilnehmenden Instruktor gefunden". Jeder weiß, dass Adorno so lange um Thomas Mann herumgewuselt ist, bis dieser jene ironische und für Adorno auch etwas peinliche Zugabe nachreichte.
Für Annalena Baerbock ist sowas natürlich das nichts. Ihre teilnehmenden Instruktoren haben ihr ohne eigenes Zutun die Autorschaft entzogen. Es sieht leider inzwischen so aus, als sei das Buch sogar komplett von teilnehmenden Instruktoren geschrieben worden, und als Baerbock mit dem Schreiben loslegen wollte, hatten die Heinzelmännchen also alles schon erledigt. Aber jetzt soll es auch gut sein. Vielleicht war das Buch und seine kurze Rezeptionsgeschichte Baerbock ja eine Lehre und Anlass zur Einkehr - womöglich sogar mit der Lektüre eines großen Werkes.
Diese Woche feiert die lesende Welt den 150. Geburtstag von Marcel Proust, der in einem Zeitraum von dreizehn Jahren einen Roman von ungefähr 4000 Seiten schrieb, der davon handelt, wie wir unablässig von unseren Erinnerungen verführt und von ihnen enttäuscht werden. Seit der erste Band erschienen ist, graben Wissenschaftler jedes Wort in diesem Schriftmonument um, nähren Zweifel an der Authentizität und kassieren diese Zweifel dann wieder ein. Was aber noch niemand in Zweifel gezogen hat: Proust hat "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" alleine geschrieben. Er war dabei wie kein anderer: archiseul.