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Anna Netrebko:Sie ist zurück

Wer braucht wen mehr, sie den Opernbetrieb, oder dieser sie? An der Wiener Staatsoper gibt Anna Netrebko eine klare Antwort.

Von Egbert Tholl

Das hat Giacomo Puccini sehr geschickt komponiert. Aus dem Off, sozusagen aus dem Treppenhaus, hört man die Stimme von Mimì, ihre Kerze ist ausgegangen, sie tappt im Dunklen herum. Rodolfo, drinnen in der kargen Stube, hört die weibliche Stimme, richtet sich schnell die Frisur, das Publikum drückt den Rücken durch. Die Musik gerinnt zu einem schwebenden Klang, Vittorio Grigolo öffnet die Tür, Anna Netrebko tritt ein und das Publikum wird wach. Ein paar der Zuschauer brüllen lauthals "Buh", viele mehr indes "Brava", die meisten klatschen. Dafür, dass Anna Netrebko da ist, auf der Bühne der Wiener Staatsoper, in Puccinis "La Bohème". Und damit zurück im Opernbetrieb. Wirklich zurück?

Noch immer weigern sich die Intendanten von Häusern wie der New Yorker Met oder der Bayerischen Staatsoper, Netrebko zu engagieren. Mit Beginn des verbrecherischen Überfalls Putins auf die Ukraine wurde von ihr, der bekanntesten russischen Künstlerin, ein Statement erwartet, gegen den Krieg und gegen Putin. Netrebko schwieg zunächst, sagte Auftritte ab, weitere wurden ihr abgesagt. Schließlich äußerte sie sich, Ende März: "Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich und meine Gedanken sind bei den Opfern dieses Krieges und ihren Familien. Ich erkenne und bedauere, dass meine Handlungen oder Aussagen in der Vergangenheit zum Teil falsch interpretiert werden konnten."

Für viele Menschen war diese Aussage, die Aussage einer weltbekannten Russin, die in ihrer Heimat noch Feunde und Verwandte hat, scharf genug. Für manche nicht. Um Netrebko drohte es still zu werden, im Sommer gab sie ein Konzert in Paris, sang in Monte Carlo, sang die Aida in der Arena von Verona, gab einen Arienabend bei den Thurn&Taxis Schlossfestspielen in Regensburg. Das meiste davon nennt man im Betrieb eine Mugge, Auftritte zum Geldverdienen ohne künstlerischen Anspruch.

Ein paar "Buhs", doch die meisten applaudieren stehend

Doch nun: Wien, Staatsoper. Geplant war dort zum Saisonbeginn eigentlich eine Wiederaufnahme von Jacques Fromental Halévys "La Juive", doch deren Protagonisten erkrankten, als Ersatz wurde unter anderem die "Bohème" angesetzt, drei der Aufführungen singt Netrebko. Man könnte sagen, sie springt ein - an einem ihrer Stammhäuser, in der Stadt, in der sie lebt. Operndirektor Bogdan Rošcic ließ mitteilen, aus Sicht der Wiener Staatsoper habe Frau Netrebko ausreichend Stellung bezogen und "es gibt keinen Grund, warum sie hier nicht auftreten darf bzw. warum sie hier mit ,Berufsverbot' belegt werden sollte".

Ein paar sehen das auch in Wien anders. Vor dem Opernhaus eine kleine Demonstration, etwa 30 Demonstrantinnen und Demonstranten halten Plakate, einer spricht ins Megaphon. Auf den Plakaten Fotos von Netrebko, Putin verleiht ihr einen Orden, Netrebko zusammen mit dem ostukrainischen Separatistenführer Oleg Zarjow und der Flagge der Separatisten, dazu der Text: "Bis heute keine Distanzierung, weder von Putin noch von Kriegstreibern." Das war 2014, das war eine jener Handlungen, die sie heute bedauert, das war sehr dumm - und doch zu einer Zeit, in der westliche Politiker die Gefahr, die von Putin ausgeht, nicht wahrhaben wollten. Seitdem hielt Anna Netrebko sich fern von politischen Aktionen, verziehen wurde ihr von einigen dennoch nicht. Auch beim Schlussapplaus in Wien schleichen sich ein oder zwei "Buhs" ein, doch fast alle Zuschauer applaudieren demonstrativ stehend.

Die Wiener "Bohème" stammt aus dem Jahr 1963, war damals schon eine Übernahme von der Mailänder Scala, mehr muss man zur Inszenierung nicht sagen. Bertrand de Billy dirigiert mit Kraft und Saft, die Besetzung ist sehr ordentlich, doch zum Ereignis wird der Abend durch die Wärme, die schauspielerische Wahrheit, die unvergleichliche Stimmschönheit, das irisierende Pianissimo Anna Netrebkos. Da kann man sich fragen, wer braucht wen mehr, Netrebko den Opernbetrieb, oder dieser Anna Netrebko? Die Antwort steht fest.

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