Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf Anna Halprin:Die Revolutionärin

Die Choreografin und Tanzpionierin Anna Halprin verstand ihre Kunst als Kraft, die die Welt verändern kann. Jetzt ist sie im Alter von einhundert Jahren gestorben.

Von Dorion Weickmann

Die Dinge des Lebens lassen sich an einer Hand abzählen: Atmen, Bewegen, Berühren, Wahrnehmen, Zusammensein. Es sind diese fünf Bausteine, aus denen sich das Lebenswerk der Choreografin Anna Halprin zusammensetzt: Kunst unter freiem Himmel, in die Straßen von San Francisco oder mitten hinein in die kalifornische Landschaft gepflanzt. Rituelle Happenings, um Gesellschaftskrankheiten zu kurieren und Ich-Wunden zu schließen. Denn, so Halprins Überzeugung, jeder Mensch vermag Krisen aus eigener Kraft zu überwinden, alle zusammen können die Welt verändern - und Tanz ist das Mittel der Wahl, wenn es um Selbstermächtigung und Vergemeinschaftung geht.

Diese Erfahrung hat die 1920 in Illinois geborene Künstlerin am eigenen Leib gemacht. Mit Mitte 50 erkrankte sie an Krebs und mobilisierte tanzend das eigene Selbstheilungspotenzial. Es war nicht die erste und nicht die einzige Pionierleistung, die Anna Halprin vollbrachte. 1945 war sie mit ihrem Mann, dem Landschaftsarchitekten Laurence Halprin, nach Kalifornien gezogen, zehn Jahre später gründete sie den revolutionären "Dancer's Workshop", der die Postmoderne befeuerte und Neuerinnen wie Trisha Brown, Simone Forti oder Yvonne Rainer gen Westen pilgern ließ.

Das Experimentelle war und blieb Halprins Element. Ihre Community Dances sind die Vorläufer aller Flashmobs, ihre Arbeit mit HIV-Infizierten setzte Maßstäbe im Umgang mit Krankheit und der Endlichkeit unseres Daseins. Auch der Tod gehört zu den Dingen des Lebens. Niemand wusste das besser als Anna Halprin. Im Alter von einhundert Jahren ist sie am 24. Mai gestorben. Die Seele ihrer Kunst aber atmet weiter.

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