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"M." von Anna Gien und Marlene Stark:Gilt sexuelle Provokation noch als politischer Protest?

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"M." von Anna Gien und Marlene Stark lässt daran zweifeln. Es ist ein feministischer Roman, der es anderen Feministen nicht leicht macht.

Von Birthe Mühlhoff

Wahrscheinlich ist es der älteste Nebenjob des Künstlers, sich über den Kunstbetrieb aufzuregen. Er muss zusehen, wie diverse Menschen an seiner Kunst etwas verdienen, nur er selbst wenig. Das gilt erwiesenermaßen noch mehr, wenn der Künstler eine Frau ist. Ein Beispiel unter vielen: Bei einem Symposium, das kürzlich in der staatlichen Kunsthochschule in Kiel stattfand, bekamen die Kunstwissenschaftler für ihre Vorträge jeweils 500 Euro. Die Künstlerinnen und Künstler, die ebenfalls Vorträge hielten und ihre Arbeiten ausstellten, gingen leer aus. Erst nachdem die Hamburger Künstlerin Verena Issel das publik machte, stellte die Hochschule eine "angemessene Aufwandsentschädigung" in Aussicht.

Über diesen Zusammenhang hat die Künstlerin Marlene Stark mit der Kunstkolumnistin Anna Gien einen Roman geschrieben, den man auf den Schlachtruf "Fickt das System" bringen kann.

Es geht da um eine junge Frau namens M. Sie hat Kunst studiert, macht zur Zeit aber lieber Musik. In Berlin arbeitet sie als DJ. Nachts schleppt sie ihren Plattenkoffer durch Neukölln, legt im "Sameheads" auf oder im Laden von Franz, und ist dabei selten nüchtern. Sie hat einen eigenen Begriff für den Kater am nächsten Morgen: "Die Kralle wächst aus meiner Stirn und zieht den Schmerz von dort aus über meinen Haaransatz bis ins Genick. Da greift sie sich fest, gräbt ihre Nägel tief in die Haut, bis in mein Rückenmark, und lässt mich bewegungsunfähig daliegen."

Dass die Autorinnen ein Blatt vor den Mund nehmen würden, kann man nicht behaupten

Vor allem aber ist M. damit beschäftigt, Sex zu haben, mit Männern aus dem Kunstbetrieb, die sie in den Arsch fickt. Ja, das ist im Grunde das, was in diesem Buch passiert. In sämtlichen Ausführungen, an verschiedenen Orten, mit einer wechselnden Anzahl Menschen. Gefickt wird zu dritt in der Bar, im Darkroom vom legendären Club "Ficken 3000" und während man auf Heimaturlaub ist behelfsmäßig auch per Videochat. Als es ihr langweilig zu werden droht, erklärt sich M. zur Sexgruppenleiterin und bestimmt im Chat, wer von ihren zahlreichen Freunden wann mit wem schlafen darf: "Eine virtuelle Sextauschbörse, in der ich die Fäden in der Hand habe. Nicht mehr selber ficken. Ficken lassen."

Alles geht immer ganz schnell. Alles passiert im Handumdrehen. Dass die Autorinnen ein Blatt vor den Mund nehmen würden, kann man nicht behaupten. Pornografisch ausgeleuchtet jede Szene, in einfachen, unvermittelten Sätzen. "Er stupst mich mit seinem Teil am Schenkel an. Das machen alle Männer, die realisiert haben, dass die Frau keine Lust hat oder zu müde ist, um Sex zu haben. Wie ein Streber, der verzweifelt mit dem Finger schnipst. Die Lehrerin wendet sich ab. Wir schlafen." Was genau jeder vom anderen eigentlich will, ist nicht von Interesse. Hauptsache, es überschneidet sich für einen Moment.

Immerhin behauptet M. von sich, nie Sex für Geld gehabt zu haben, wie viele ihrer Kolleginnen. Die schwarzen Bretter der Kunsthochschulen sind offenbar voll mit lukrativen Angeboten. Das mit dem Hochschlafen sei so eine Sache, erklärt sie, "eigentlich funktioniert es nicht. Einmal Ficken bringt gar nichts." Zweimal ficken anscheinend aber schon - jedenfalls bekommt sie schließlich die Einzelausstellung in einer viel beachteten Galerie.

Ist dieses bunte Treiben Karrierismus oder Hedonismus? Im Leben von M. und ihren Freundinnen ist das vielleicht ein und dasselbe. Unter "Feminismus" verstehen sie wohl eine Art hegelianische Aufhebung von beidem. Fest steht, dass Feminismus für M. etwas ganz anderes ist als für ihre Mutter, die in Süddeutschland ein sehr normales Familienleben führt. Für sie bedeutet Feminismus, alles schaffen zu können, wenn man es nur will. Was dann heißt: Eine 120-Prozent-Arbeitsstelle und 98 Prozent vom Haushalt. Es ist klar, dass so ein Leben keine Option ist für die hoffnungslos überdrehte M. In der Kunst kommt man selten zu Erfolg, wenn man nur fleißig alles richtig macht. "Manchmal denke ich, dass ich es allen leichter gemacht habe, indem ich ein echter Sonderling wurde", sagt sie sich am Weihnachtsabend.

Vom Kampf um angemessene Aufwandsentschädigungen sind die Protagonisten weit entfernt

Damit ist prägnant auf den Punkt gebracht, wie die Emanzipation von Frauen nicht nur in Gesellschaft oder Berufsleben für Gesprächsbedarf sorgt, sondern auch innerhalb der Familie. Am Ende wirft der Roman die Frage auf, ob das, was wir als normale Familie empfinden, so auszusehen hat, wie es aussieht und nicht anders. "M." ist ein feministischer Roman, der es anderen Feministen nicht leicht macht.

Die Gründe dafür, dass das Konzept des Romans sich zu sehr aufdrängt und dann nicht ganz aufgeht, sind aber andere: Im Roman sind Abbildungen abgedruckt, zum Beispiel die Signatur von Jan Vermeer und irgendwelche Gemälde. Wozu bloß?

Und warum diese seitenlangen, vermeintlich geistreichen Tiraden, die Milieubeschreibung sein wollen aber Gehässigkeit sind? Ob es nun Rollkoffertouristen in Berlin trifft, die gentrifizierenden Nachbarn oder die Frauen "in den Frühstückscafés auf der Akazienstraße mit ihren Milchkaffees". Wer es sich zum Ziel gesetzt hat, über möglichst viele Dinge zu sagen, dass sie bescheuert seien, schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn er eine bescheuerte Sache mit einer noch bescheuerteren Sache vergleicht. Spätestens nach dem zweiten nerven solche Vergleiche. Es gibt in "M." zu viele Klischees, die sich nicht gut vertragen mit dem offensichtlichen Anspruch des Romans, ein aufregendes Buch zu sein.

Es liegt nahe, dass der Name M. für die Autorin Marlene Stark steht und das Erzählte autobiografische Züge trägt; dass sich ihre Freunde in dem Buch wiedererkennen und manche Männer, die weniger gut dabei wegkommen. Als Leser hat man dann das Gefühl, jetzt werde gerade gegen jemanden ausgeteilt und versteht es als Außenstehender nicht ganz. Wer jetzt, was jetzt und warum? Aus ernst gemeinter Rache? Aus Spaß? Mehr Follower auf Instagram?

Aber immerhin: "M." ist ein lustiger, kurzweiliger Roman. Sollte man länger über ihn nachdenken, verliert er an Lustigkeit. Ob im Sinne der Autorinnen oder nicht, hängt davon ab, wie viel Hass man auf den Kunstbetrieb hat. Und wie viel Lust auf Gehässigkeit und sinnloses Rumgeficke.

Will "M." auch ein politisches Buch sein? Die Wut auf das System ist unübersehbar, auf die Macht einzelner, auf die Ungerechtigkeit, die man als Künstlerin erfährt, in einer Welt, die von Männercliquen dominiert wird, von den "Wirtschaftsweisen" wie M. sagt. Dass sie den Kunstbetrieb symbolisch in den Arsch fickt, wirkt allerdings wie eine etwas ausgelutschte Metapher, wenn es denn eine sein soll. Die Zeiten, in denen außergewöhnliche Sexpraktiken mit außergewöhnlich vielen Partnern per se als politischer Akt von Befreiung und Protest galten, sind schließlich seit Ende der Siebzigerjahre vorbei. Es wirkt, als werde hier ein letztes großes Geschütz aufgefahren, um den privaten Sex noch einmal politisch aufzuladen. Dass der leider nach wie vor mit Erniedrigung assoziierte Analsex dafür herhalten muss, ist wiederum keine Überraschung.

Von echtem Protest oder mühseligem Kampf um angemessene Aufwandsentschädigungen sind die Protagonisten des Romans mehr als einen revolutionsbeflissenen Steinwurf weit entfernt. Eher handelt es sich um, alt aber bewährt, die Verklärung des Künstlergenies ins komplett Abgewrackte.

Marlene Stark, Anna Gien: M. Roman. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 248 Seiten, 20 Euro.

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Quelle:
SZ vom 02.03.2019
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