Anleitung zum Zuhausebleiben (2):Viva blass Vegas

Vergesst den Traumstrand! Beim Urlaub in der eigenen Wohnung erhält man sich die noble Blässe, die in der Krise nötig ist, um den sozialen Frieden zu wahren.

Franziska Seng

Der Reisereflex wird dem Deutschen in die Wiege gelegt. Früh ahnt er, nicht im Paradies, also in der Schweiz oder Burkina Faso, geboren zu sein. Warum sonst würden ihn die Eltern Jahr für Jahr zwischen Schwester, Straßenatlas und Kühltasche in den Fond klemmen und anstrengende Fahrten über jedwede Grenze unternehmen? Eden muss jenseits dieser Grenzen liegen, in einem Land, das nur in einer unklimatisierten Fahrgasthölle über verschlungene Alpenpässe zu erreichen ist. Als Kind nimmt man das hin und umklammert blass seine Brechtüte.

Anleitung zum Zuhausebleiben (2): Dita allein zu Haus: Die noble Blässe einer von Teese wird Zuhausebleibern in diesem Jahr noch gute Dienste erweisen.

Dita allein zu Haus: Die noble Blässe einer von Teese wird Zuhausebleibern in diesem Jahr noch gute Dienste erweisen.

(Foto: Foto: oH)

Wer dagegen, erwachsen und selbstbestimmt, den Reisereflex unterdrückt, läuft Gefahr, dem Rechtfertigungsreflex zu erliegen. Er sagt dann den furchtbar hilflosen Satz: "Ich urlaube dieses Jahr in Balkonien, höhö" - und bewirkt das Gegenteil dessen, was er erreichen wollte, nämlich gelassene Heiterkeit ausstrahlen in der großen Ferienpandemie. Er erntet stummes Mitleid. Genauso hätte er sagen können: "Wir haben Macchiato, unseren Golden Retriever, eingeschläfert." Die Vokabel "Balkonien" ist von Zuhausebleibern zu vermeiden.

"Balkonien" ist eine urbane Fata Morgana: in der vorsommerlichen Phantasie eine sonnige Oase, mit gepflegtem Grün, freien Liegestühlen und selbstgebrautem Eistee eimerweise. Da kann man die Seele baumeln lassen! Keine Griffe zur Brechtüte, keine Wartezeiten am Buffet. Nur kurz über die Balkontürschwelle stolpern, schon darf man sich brüsten, auch eine Art Grenzerfahrung gemacht zu haben. Die größte aller Verheißungen aber lautet: Auch in Balkonien wirst du braun.

In der sommerlichen Realität vieler Haushalte ist der Balkon die No-Go-Area. Ein versmogter Wohungsaußenposten, auf dem Putzutensilien bleichen und Geranien welken. Oder er ist gar nicht vorhanden. Und das ist auch gut so. Der Balkon ist in diesem Sommer kein Ort für längere Aufenthalte. Denn seit Jahrzehnten war eine krosse Bräune nicht mehr so unzeitgemäß wie in dieser Saison.

Der größte Vorteil beim Urlaub in den eigenen vier Wänden war schon immer der, dass man seinen noblen Schreibtischteint nicht ruiniert. In der Vergangenheit schien das kein Argument zu sein, ja das Erreichen eines höheren Bräunungsniveaus für viele Urlauber oberstes Ziel und Zweck ihrer Reiseanstrengung. Man machte sich frei, cremte sparsam, erstarrte mit gleichgesinnten Poolgefährten zu einer vierzehntägigen, trägen Fleischmasse und hoffte auf die schmerzarme Wandlung zu bronze-metallic. Die Geduld, mit der dies ertragen werden musste, erinnert an das frühchristliche Martyrium des heiligen Laurentius, den Kaiser Valerian auf einem Bratrost gegrillt haben soll. Wer sich aus seiner Bild-Zeitung ein Sonnenhütchen bastelte, war ein Feigling.

Elfengleiche Schönheiten wie Nicole Kidman, Dita von Teese oder Bill Kaulitz beweisen zwar schon seit Jahren, dass man nicht braun wie Bohlen sein muss, um als attraktiv und erfolgreich zu gelten; und langfristig ist es natürlich der Gesundheit und Schönheit zuträglich, zu viel Sonne zu meiden. Doch für langfristige Gewinne, das ist ähnlich wie bei Klimaschutz, Finanzpolitik oder christlichem Seelenheil, lassen sich nicht alle gleich zur Aufgabe eingebrannter Gewohnheiten hinreißen. Problembewusstsein entsteht über Umwege und in Krisensituationen. Die sind nun eingetreten: In einem Rezessionsjahr ist es taktlos, fast fahrlässig, urlaubsgebräunt durch die Gegend zu laufen. Der blasse Wohungshocker wird zum Trendsetter.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wer gegen die Pflicht zur Blässe verstößt - und damit böse auffällt.

Brutzeln auf Balkonien

Gebräunte Haut wurde salonfähig, als sie begann, Wohlstand und Freizeit zu signalisieren. Doch in einer Zeit, in der Menschen mit gekürzten Löhnen sich nur einen Ausflug ins verregnete Sauerland leisten können, ist sie ein öffentliches Ärgernis. Sie erinnert verregnete Sauerlandsommerfrischler an die Zeiten, in denen sie selbst noch nach Alanya oder Hurghada aufbrechen konnten, und schürt Sozialneid. Was das bedeutet, mussten prominente Opfer bereits am eigenen Leib erfahren.

Ulla Schmidt zum Beispiel. Wäre ihr der Dienstwagen in Malmö, Baden-Baden oder einem polnischen Dorf abhanden gekommen, wäre das nicht so schlimm gewesen. Aber die dekadent wirkende Alicante-Bräune der Gesundheitsministerin wäre ein Affront für die gereizte Öffentlichkeit gewesen, so dass sie erst ins Kompetenzteam durfte, als die mediterrane Fehlfarbe abgerubbelt und im Badewannenausguss verschwunden war.

Oder Maria-Elisabeth Schäffler. Niemand wollte ihr die Staatshilfen gönnen, die sie für die angeschlagene Schäffler-Gruppe beantragt hat, dabei arbeitet sie laut eigenen Aussagen wirklich hart, zum Teil achtzig Stunden die Woche! Wer mit einer faustdick unter die Haut gehenden Tiefenbräune auftritt, dem kann man diesen Satz, selbst wenn man wollte, leider nicht glauben. Oder verbringt sie ihre Nächte im kalten Licht eines Eigenheimsolariums? Für die ehrgeizige Witwe kann es keine Hoffnung auf Rehabilitierung geben. Pelzmäntel ließen sich in der Not noch einmotten, doch ein derart ehrgeiziges Gesichtsleder wird man für den Rest des Lebens nicht mehr los.

Auch weniger prominente Menschen sollten sich dieser Tage in Rücksicht üben. Ein Freund berichtete mir besorgt von den Antipathien, die rüstige Rentner auf Zugfahrten bei ihm auslösten, fröhlich bunte Softshell-Jacken und Wanderstöcke in die Gepäckablagen der Großraumwaggons donnernd und auch sonst den Lärmpegel beträchtlich anhebend. Er fühle sich schlecht, schließlich hätten die ihr ganzes Leben dafür, etc. Trotzdem. Er überlegt, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Ich riet ihm, seinen Zorn mit Buttercremetorte zu ersticken, oder, falls dies nichts helfe, die Heizung bis zum Anschlag aufzudrehen und den heiligen Laurentius anzurufen. Manchmal hilft das, dann wird es daheim fast so paradiesisch wie in Burkina Faso.

Lesen Sie nächsten Dienstag im letzten Teil der Serie: Oblomows Erben - Der Urlaub zu Hause als Gratwanderung zwischen Gemütlichkeit und Verwahrlosung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: