Rezension:Nehmt das, naive Freunde der Mittelklasse!

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"Schäfchen im Trocknen": Anke Stelling seziert das Berliner Selbstverwirklichungs­milieu mit einer Wut, die selten ist in der Gegenwartsliteratur.

Von Jens Bisky

Im Augenblick der Kränkung fallen Resi die Fußböden wieder ein. Im Stuttgarter Elternhaus lag Sechzigerjahre-West-PVC, das zu gegebener Zeit mit Scheuerpulver bestreut und dann geschrubbt wurde, bis das graue Schlierenmuster vom Schmutz befreit war. Dann ging sie wie fast alle Ambitionierten nach Berlin, zog von Wohnung zu Wohnung und hatte einmal richtig Glück: "Dreißiger-Jahre-Holzestrich, dunkelgrün und sehr gut erhalten".

Holzestrich scheint ihr der schönste aller Böden, aber viel zu teuer. Die Leute wählen, wenn sie sich nicht fürs staatstragende Parkett entscheiden, üblicherweise zwischen Dielen und Fliesen. Was schöner, was besser sei? Resi hat vier Kinder, schreibt, ihr Mann ist Künstler, viel verdienen sie nicht, da sieht man schärfer. Dielen in der Küche sehen gut aus, aber das Holz arbeitet, die Ritzen werden breiter und breiter und Heimstatt für Dreck. Fliesen sind kalt, wenn keine Heizung darunter ist, und pflegeleicht, so pflegeleicht, dass sie täglich gewischt werden müssen. In der Fußbodenfrage gibt Resi ihrer Tochter den Rat: "Einfarbige Terrakottafliesen mit Fußbodenheizung sind okay - wenn man eine Putzfrau hat, die sich ständig um sie kümmert."

Resi hat, sollte man meinen, eigentlich andere Sorgen. Bevor sie übers Wohnungsdesign nachdenken kann, mus sie erst einmal eine neue Bleibe für sich, für Sven und die vier gemeinsamen Kinder finden. In der Wohnung, in der sie bislang hausen, sind sie Untermieter eines guten Freundes, der nun aber gekündigt hat, um sie zu bestrafen. Wo sollen sie hin? Raus aus der Innenstadt, fort vom Milieu, zu dem sie sich zählten? Raus nach Marzahn?

Resi tut, was sie kann, sie schreibt für sich und ihre Tochter auf, wie es so weit kam, wie sie in einfachen Verhältnissen aufwuchs, sich in die Illusion hineinlebte, sie könne wie ihre Freundinnen und Freunde zum gehobenen Selbstverwirklichungsmilieu dazugehören, wie sie die Illusionen verlor, aus dem Freundeskreis verstoßen und zum Neuanfang verdammt wurde.

Wo bringt man seine Schäfchen ins Trockene? Die Schriftstellerin Resi muss samt Familie raus aus der zu kleinen, gut gelegenen Berliner Innenstadtwohnung. Nach Marzahn wollen sie nicht, sie ziehen nach Ahrensfelde. (Foto: unsplash)

Diese Suada einer Aufsteigerin ist ein Roman geworden, wie es ihn viel zu selten gibt in der deutschen Gegenwartsliteratur: Wütend, intensiv, ein Schlag in die Magengrube aller naiven Freunde der Mittelklasse, böse, witzig, getragen vom Willen zur soziologischen Genauigkeit. 2015 hat Anke Stelling in ihrem Roman "Bodentiefe Fenster" von einer Baugruppenhausgemeinschaft, Berlin, Prenzlauer Berg, berichtet und als eine der Ersten das zeittypische Ineinander von Selbstverwirklichungsromantik und robuster Bürgerlichkeit geschildert. Die urbanen Kreativromantiker von heute kombinieren klassische Außenseiterideale mit dem unbedingten Willen zu Status, Vermögen, Anerkennung, zur Besetzung der Mitte. Sie sind gegen Kommerz, Konformität, Enge und werden, ohne ihrem moralischen Selbstbild abzuschwören, Eigentümer, Chefs, abgeschottet von - eben - bodentiefen Fenstern.

Das war damals eine Binnensicht. "Schäfchen im Trockenen" erzählt vom Herausfallen aus diesem Milieu. Stelling verbindet damit eine biografische Selbstvergewisserung, die von Ferne an Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" erinnert, aber der Herkunftswelt mehr Verständnis und Sympathie entgegenbringt. Die aggressive Kritik gilt dem Zielmilieu. Resis Mutter hinterließ ein Tagebuch, darin stand nur ein Satz: "Wieder viel zu viel gegessen." Resi hatte eine glückliche Kindheit, wie es war, schien selbstverständlich, ohne Alternativen. An der Schule - es war, lang her, in den Achtzigerjahren - befreundete sie sich mit Kindern Besserverdienender, mit ihnen brach sie nach Berlin auf. Und sie hätte ja dazugehören können, den einen heiraten oder das großzügige Angebot des anderen annehmen, ihr die fünfzigtausend Euro zu überlassen, die es gebraucht hätte, um mit in die Baugruppengemeinschaft der Freunde zu ziehen. Sie wollte das nicht. Damit sie in der Nähe bleiben könne, überließ ihr Freund Frank seine Wohnung zur Untermiete. Und es wäre wohl alles weiter leidlich gegangen, hätte sie nicht über das Baugruppenprojekt und die Vertrauten geschrieben, die sich verraten, entblößt, durchschaut fanden.

Das Schreiben löst in diesem Roman die Krise aus und ist das Mittel, sich ihr zu stellen, eine Subjektposition zu erobern, den Geschichten, die uns umgeben, Träume und Wahrnehmungen formen, andere, eigene entgegenzusetzen. Deswegen ist dies mit Absicht "das Gegenteil eines gut gebauten, elegant komponierten Romans". Zu Recht parallelisiert Anke Stellings Resi die Feuilletonfloskeln, die Werbung in Urteilsgestalt verbergen, mit den "Traummaßen 90 - 60 - 90". Man kann daneben die Familienidyllen stellen, die den Gestank, den Dreck, den Stress des täglichen Miteinanders, die Arbeit verdecken, die vier Kinder mit sich bringen. Do it yourself heißt für Resi etwas anderes, ist notwendig, um über die Runden zu kommen, nicht Selbstgenuss.

Auf welche Weise den berühmten feinen Unterschieden großstädtischer Lebensstile recht grobe ökonomische Differenzen zugrundeliegen, zeigt der Roman ebenso wie Taktiken, das zu verstecken, wegzureden, zu überspielen. Oft gesagt: "Ich weiß nicht, wie du das schaffst", was in Resis Ohren klingt wie: "Mit dir will ich auf keinen Fall tauschen." Das wirksamste Argument: Sie habe ihre Chance gehabt, solle sich nicht zum Opfer stilisieren. Dagegen wird die eigene Lebensgeschichte, der gesamte Roman aufgeboten.

Resis Unbehagen, ihr Widerstandsgeist äußert sich auch in Alltagspunk wie dem Dosenfraßverzehr, Kettenrauchen, Urinieren im Freien oder in dem Versuch, schöne Herbstferien durch Nichtstun herbeizuzaubern, während die Schulkameraden der Kinder in die warmen Länder oder zu wertvollen Abenteuern fliegen müssen.

"Schäfchen im Trockenen" lässt vermuten, dass die Wohnungsfrage für die Gegenwartsliteratur das werden könnte, was der Ehebruch für den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts war: ein Motiv, in dem vorfabrizierte Träume, Selbstbilder, sozialmoralische Erwartungen und harte Tatsachen wie Verträge, Vermögen, Status existenzbedrohend zusammentreffen.

Aber einen blinden Fleck hat Resi: Es ist Marzahn, das unter Honecker errichtete Plattenbauviertel draußen im Osten. Für diese Welt hat Resi lange Zeit keine Worte, nur Klischees parat, als liege die Gegend, höchsten dreißig Minuten Fahrt von Mitte entfernt, im Jenseits und werde von Außerirdischen bevölkert. Und weil dies so ist, hat ihre Weltsicht mit der routinemäßig attackierten neoliberalen dann doch eines gemein. Es gibt da keine Gesellschaft, nur Familien und Freunde, Marzahn und Innenstadt denkt sie nicht zusammen.

Das ändert sich am Ende, das fast ein glückliches ist. "Der Umzug ist so was wie ein Experiment. Resi kann ein Buch darüber schreiben: Wie's sich außerhalb des S-Bahn-Rings so lebt. Wie die Nachbarn ticken. Raue Töne, weiche Herzen; und dass Resi und Sven noch rauchen, erleichtert ihnen die Akzeptanz. (...) Es ist okay. Vielen wird es im Verlauf der nächsten Jahre genauso gehen." Deswegen liest man diesen Roman atemlos, empört, erwischt, er hat keine Traummaße, ist nicht poliert, aber mit Wirklichkeit, mit Engagement verschmutzt.

© SZ vom 30.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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