Süddeutsche Zeitung

Gentrifizierung: Ein Spaziergang mit Anke Stelling:Das haben wir jetzt davon

Der Berliner Wohnungsmarkt ist Kampfzone geworden: Eine Runde durch ihr Viertel mit Anke Stelling, die genau darüber ihre Romane schreibt. Und die Frage, was Literatur da ausrichten kann.

Von Verena Mayer

Die Schriftstellerin Anke Stelling hat einen kaum begrüßt, da geht es schon ums Wohnen. Genauer gesagt um ihr Büro in Berlin-Prenzlauer Berg, das aber nur ein Zimmerchen in der Wohnung eines Bekannten ist - bei den Mieten würde sie keinen anderen Ort zum Arbeiten finden. Wohnen ist in Berlin ein Thema wie anderswo das Wetter, ein Icebreaker, um mit Fremden ins Gespräch zu kommen. In ihren Büchern schreibt Anke Stelling sehr oft über dieses Thema.

Ihr Roman "Bodentiefe Fenster" von 2015 handelt von Leuten im Kreativmilieu, die sich zu einer Baugruppe zusammentun, um in der Großstadt ihren Traum vom alternativen Leben zu verwirklichen. Das scheitert nicht nur an den unterschiedlichen Vorstellungen vom Wohnen, sondern auch an den sozialen Verwerfungen in der Gruppe. Die einen können alternativ leben, weil sie geerbt haben, die anderen müssen es tun, weil sie sich nichts anderes leisten können. Oder wie es die Berliner Musikerin Christiane Rösinger einmal ausdrückte: Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht?

In Stellings bekanntestem Roman "Schäfchen im Trockenen" (2018) bekommt Resi, Schriftstellerin und vierfache Mutter, die ohnehin schon so prekär lebt, dass sie ihren Schreibplatz in der Speisekammer hat, eine Wohnungskündigung und muss mit der Familie in eine Plattenbausiedlung am Stadtrand ziehen. Und Stellings jüngster Text, die Kurzgeschichte "Plastikteile" im Sammelband "Klasse und Kampf" (2021), leuchtet den letzten Wohnraum einer Frau aus: das Krankenzimmer, in dem sie stirbt. Wenn man so will, beobachten Stellings Bücher literarisch, wie Wohnen zur sozialen Frage unserer Zeit wird.

Ergebnis der Wohnungssuche: "Eigentlich müsste ich sagen, Berlin, das war's."

Das hat Stelling nicht nur 2019 den Preis der Leipziger Buchmesse eingebracht, sondern macht sie auch zu einer gefragten Gesprächspartnerin, wenn es um Gentrifizierung geht. Gerade wird sie oft angerufen, um das Thema Wohnen brodelt es in Berlin. Der Mietendeckel wurde gekippt, viele müssen die Differenz auf ihre zwischendrin abgesenkten Mieten wieder zurückzahlen. Zwei Wohnkonzerne, die ohnehin einen Großteil der Berliner Wohnungen besitzen, wollen auch noch fusionieren. Auf der anderen Seite erhält ein Volksbegehren enormen Zulauf, das Wohnungseigentümer enteignen will. Der Berliner Wohnungsmarkt ist zur Kampfzone geworden.

Ein kühler Frühlingsmorgen, Anke Stelling spaziert durch ihr Viertel im Prenzlauer Berg. Bei sich zu Hause kann sie sich nicht mit Journalisten blicken lassen, die Geschichte der zerstrittenen Baugruppe ist in Teilen ihre eigene, und das haben die Mitbewohner ihr übel genommen. Weshalb Stelling nun selbst seit einem Jahr auf Wohnungssuche ist, "eigentlich müsste ich sagen, Berlin, das war's". Sie geht Richtung Kollwitzplatz, der mit seinen Dachgeschosswohnungen, schwäbischen Zugezogenen und Latte-Macchiato-Eltern längst zum Klischee geronnen ist. Stelling hat ihn und sein Milieu dennoch immer wieder zum Thema ihrer Romane gemacht. Gar nicht einmal, weil es sie so sehr reizte, dem Klischee etwas entgegenzusetzen. Sondern weil sie "trotzig genug" gewesen sei, in dem Moment, "als ich mit dem Latte auf dem Spielplatz war, zu sagen: Jetzt bin ich dran." Sie schreibe an ihrer "eigenen Entwicklung und Biografie entlang", sagt sie, "und das ist mal Muttersein, mal Geldhaben, mal Wohnungssuche in der Innenstadt".

Stelling, 1971 in Ulm geboren und in Stuttgart aufgewachsen, erzählt mit zartem schwäbischen Einschlag. Und sie hat eine Art, das Gesagte zwischendurch in ironischem Ton zu kommentieren, als würde sie sich von oben zugucken. So wie es die Ich-Erzählerinnen in ihren Büchern tun, was diesen leicht passiv-aggressiven Sound ergibt, für den Stelling berühmt wurde. Das Bemerkenswerte daran ist, in welchem Tempo die Figuren von der Reflexion zum banalen Detail kommen, vom romantischen Lebensentwurf bis zum vollgelaufenen Keller dauert es oft nur einen Satz.

Die Literatur hat sich immer schon den Behausungen gewidmet, in denen sich der Mensch einrichtet. Mal ist die bürgerliche Wohnkultur mit ihren schweren Teppichen und unverrückbaren Möbeln das, was Ordnung schafft, oder sie repräsentiert die Zwänge, aus denen man ausbrechen will. Mal steht der desolate Zustand von Hinterhöfen und Zinshäusern für die zerstörten Seelen der Figuren. Bei Stelling ist Wohnen das, womit der Mensch seinen Lebensentwurf nach außen trägt, mit bodentiefen Fenstern zur Seele. Der Wohnraum durchdringt die gesamte Persönlichkeit ihrer Figuren und alle ihre sozialen Beziehungen. Ist er bedroht, sind es auch die Figuren selbst und ihr ganzes soziales Gefüge.

Stelling guckt über den Kollwitzplatz, die frisch renovierten Altbauten, die schicken Neubauten. Ein routinierter Blick nach oben - wie teuer eine Gegend sei, erkenne man daran, wie hoch die Dichte der ausgebauten Dachgeschosse sei, sagt Stelling. Das Mietenthema ziehe sie "richtig runter", zumal der Mietendeckel ja schon der Versuch war, gutzumachen, was eine rot-rote Regierung der Stadt einst eingebrockt hatte, als sie in großem Stil Sozialwohnungen verkaufte, um Haushaltslöcher zu stopfen. Den Spruch "Wem gehört die Stadt" finde sie schlagend, sagt sie, "die Stadt gehört denen, die darin leben, und nicht den Investoren, die nicht mal hier sind".

Stelling glaubt nicht, dass ihre Literatur politisch etwas verändern wird, "sonst hätte ja 'Schäfchen' schon bewirkt, dass es ein neues Mietengesetz gibt". Aber sie ist überzeugt davon, dass Gegenwartsliteratur die "Themen der Stunde" mitliefern kann: "Ich bin Verfechterin der Verbindung, dass Politik in Geschichten steckt." In wenigen Romanen kann man das Berlin von heute denn auch so gut erkunden wie in Stellings Texten. Ihre Stadt ist kein Freiraum für Sehnsüchte mehr, wie in den Berlin-Romanen von Judith Hermann oder David Wagner. Die Träume der Neunzigerjahre, als in Berlin noch alles frei und leer war, sind zu Ende, die Träumer damit beschäftigt, ihre Miete zusammenzukratzen.

Wie viele Paare trennen sich nicht, weil sie sich keine neuen Wohnungen leisten können?

Stelling hat selbst in diesem Berlin angefangen. In ihrer Familie war sie die Erste mit Abitur, aber "ich dachte, ich kann Kunst machen, ich wollte nicht Sicherheit, sondern Selbstverwirklichung". Sie bewarb sie sich erst an der Schauspielschule, habe es aber unter anderem deshalb nicht geschafft, weil sie aus "Maria Stuart" die Elisabeth vorsprach, "die hässliche, die Schiller nicht so sexy fand, und der Prüfer auch nicht". Dann tat sie sich mit anderen zusammen und machte in Berlin selbst Kunst. Platz dafür gab es genug, in ihren ersten zehn Berlin-Jahren ist sie zehn Mal umgezogen. Sie kann sich noch gut an dieses Gefühl erinnern, "wir machen etwas, wir brauchen nichts, es kostet nichts, es geht".

Heute schaut man auf die Fassaden im Prenzlauer Berg und fragt sich, wie viele unglückliche Paare wohl dahinter leben, die sich nicht trennen, weil sie sich keine neuen Wohnungen leisten können. Früher ließ man sich nicht scheiden wegen der Kinder oder dem Hof. Heute bleibt man wegen des ausgebauten Dachgeschosses zusammen.

Vor allem die Frauen trifft es in Stellings Texten hart. Mit Mitte zwanzig sind sie aus der Provinz nach Berlin geflohen, mit Mitte vierzig finden sie sich in einer Abhängigkeit wieder, die sie nie wollten, von Vermietern, einer Erbschaft, Männern, die so sind wie Heiner aus Stellings Kurzgeschichtensammlung "Grundlagenforschung" (2020): "Haarscharf ist er dran vorbeigeschrammt, so richtig berühmt zu werden. Wäre er Brite, wäre er's. Hätte er es geschafft, sich auf eine Sache zu konzentrieren, wäre er's auch. So ist er aus Hannover und macht alles gleichzeitig: singen, malen, Gitarre spielen, Bühnenbild, kurze Fernsehauftritte ..." Stelling sagt, dass ihr selbst dieses Schicksal erspart geblieben ist. Sie wolle ihr prekäres Künstlerleben nicht schönreden, aber "dass ich nicht reich geheiratet habe, hat meiner Kunst auch gutgetan".

Inzwischen ist sie so bekannt, auch außerhalb Berlins, dass sie auf Lesungen gefragt wird, wie sie wohnt, was sie wählt, wie sie ihre Kinder erzieht. Sie habe manchmal Angst, den Lesenden nur noch zu geben, was sie wollen, "den Stelling-Sound, Schäfchen Teil zwei". Oder in "linke Melancholie" zu verfallen, wie es Walter Benjamin einmal Erich Kästner vorwarf, sodass die Wut über die Zustände irgendwann zur Pose wird. "Ich kann mich zwar in etwas reinsteigern, aber das darf nicht Routine werden."

An einem Laternenpfahl hängt ein handgeschriebener Zettel, ein Vater sucht eine Wohnung für sich und seinen kleinen Sohn. So etwas habe sie ja schon lange nicht mehr gesehen, sagt Stelling, die Leute würden ja nur mehr online Wohnungen suchen. "Vielleicht denkt er, jemand findet das süß." Man merkt, wie es in ihr arbeitet, dass hier vielleicht eine Geschichte liegen könnte. Zunächst wird sie sich aber einer anderen Kampfzone zuwenden: Stelling arbeitet an einem Eheroman.

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