Ein Buchtitel wie ein Paukenschlag: "Aufklärung". Vermuten könnte man dahinter ein Sachbuch, das die Epoche, auf die wir, je nach Blickwinkel, den Glanz oder das Elend der Moderne zurückführen, wieder einmal neu beleuchtet. Aber dieses Buch ist "Ein Roman", explizit mit unbestimmtem Artikel, und es ist sogar ein Unterhaltungsroman. Zudem handelt es sich um ein Werk der feministischen Literatur, und selten war Feminismus so kurzweilig.
Ferner haben wir es mit einem Musikroman zu tun, der mutwillig einkalkuliert, dass sein imaginativer Überschwang puristische Musikologen verstimmen muss . Ein historischer Roman? Jedenfalls keiner, der vorgaukelt, dass es genauso gewesen sein könnte: Diesem Trugschluss wird vorgebeugt durch ironische Brechungen, Anachronismen und unverhohlene Schwindeleien, die an die Usancen der literarischen Postmoderne erinnern. Deren letztes Stündlein hat ja angeblich im Jahr 2010 geschlagen, aber das dürfte Angela Steidele wenig kümmern.
Zeitreisen der etwas anderen Art sind die Spezialität der Autorin, die vor knapp zwanzig Jahren mit ihrer Dissertation über "Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850" ihr wissenschaftliches und literarisches Grundthema etablierte und seitdem mehrere Bücher dazu publiziert hat. Gleich zweimal, in Form eines Romans und eines biografischen Berichts, bearbeitete sie das Schicksal der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel, die kurz nach 1700 ein Leben in Männerkleidern führte, als Musketier kämpfte, als Frauenheld notorisch wurde, eine Geliebte heiratete und am Ende durch Hinrichtung starb. Das Motiv der Erotik zwischen Frauen kommt selbstverständlich auch in Steideles neuem Werk vor, aber hier ist es eher beiläufig eingewoben in ein Geflecht intellektueller Beziehungen unter Frauen und Männern, das als eine Art rückwärtsgewandter Utopie ins protestantische Leipzig des 18. Jahrhunderts projiziert wird.
Bach wird respektvoll als klug schweigender Beobachter und zart cholerisches Genie porträtiert
Die Erzählstimme gehört Catharina Dorothea Bach, der ältesten Tochter des Komponisten aus erster Ehe. Kurioserweise scheint sie sich als Projektionsfigur besonders zu eignen, obwohl (oder weil) man gar nichts über sie weiß, abgesehen von jener Notiz Johann Sebastians, die da lautet, dass das Mädchen im Familien-Ensemble "nicht schlimm einschläget". Im Bach-Jahr 2000 trat sie schon einmal als fiktive Tagebuchschreiberin auf, in dem deutlich weniger aufklärerischen, aber auch nicht komplett trivialen Roman "Mein Vater, der Kantor Bach" von Andreas Liebert, einem Musikwissenschaftler und Autor im historischen Populärgenre. Überschneidungen waren da wohl kaum zu vermeiden: Das Bild der unbemannten Tochter, die für die jüngeren Geschwister sorgt, sich mit ihrer hochmusikalischen Stiefmutter Anna Magdalena gut versteht und ihre eigene Begabung unter den Scheffel stellt, wird hier wie dort liebevoll ausgemalt.
Aber natürlich geht es Angela Steidele nicht um den Vater Bach, den sie nebenbei mit viel Respekt und Einfühlung als klug schweigenden Beobachter und leicht cholerisches Genie porträtiert. Im Zentrum steht bei ihr die kühn erfundene Freundschaft zwischen Dorothea Bach und Luise Adelgunde Gottsched, jener berühmten "Gottschedin", die als Schriftstellerin und Übersetzerin, als Galionsfigur weiblicher Gelehrsamkeit und Geistesautonomie zu den herausragenden Persönlichkeiten der Epoche zählte. Aus der verbürgten Tatsache, dass ihr Göttergatte, der Sprachforscher und Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched, sie nicht nur als Zu- und Mitarbeiterin kräftig ausnutzte, sondern auch versuchte, ihren Anteil an seinem Werk herunterzuspielen, wird bei Steidele die Initialzündung für Dorothea Bachs Bericht.
Nach Luises frühem Tod im Jahr 1762 möchte sie ihre Erinnerungen schriftlich festhalten und empört sich zugleich über den rührselig-herablassenden Nekrolog des Witwers auf seine "Gehülfin". Er wiederum hat ihr Luises Korrespondenz, die deren Görlitzer Herzensfreundin Dorothee von Runckel veröffentlichen will, zur Sichtung anvertraut - Überraschungen inbegriffen. In dieser Lage lässt Steidele die Ich-Erzählerin, nunmehr Mitte fünfzig, auf ein drei Jahrzehnte umspannendes Panorama aus akribisch recherchierten Fakten und verwegener Fiktion zurückblicken, inszeniert als vielstimmiges Gespräch über die Verheißungen und Herausforderungen der sich anbahnenden neuen Zeit.
Hier treten sie in wechselnden Konstellationen zum Wettstreit der Ideen an, die klugen Köpfe, die sich damals im intellektuellen Brennpunkt Sachsens versammelten, von denen jedoch nur fragmentarisch überliefert ist, inwieweit sie untereinander Umgang hatten. Man trifft sich im Kaffeehaus, im "Goldenen Bären" , im Theater oder in einem der frühesten Salons, in der Thomasschule, in der Universität, in den Häusern der Bachs oder des "Gelehrtentandems" Gottsched: der Musiktheoretiker Lorenz Mizler, der Komponist Johann Adolf Scheibe, Bachs Librettist Christian Friedrich Henrici alias Picander, die Buchdrucker Breitkopf senior und junior, der Mediziner Gottlieb Ludwig, der Theologe Johann August Ernesti sowie, als sanftmütige Nervensäge, der hypochondrische Schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert. Zu ihnen gesellen sich starke Frauen wie die Dichterin, Musikerin und Salon-Gründerin Christiana Mariana Ziegler und die rebellische Theaterprinzipalin Caroline Neuber. Später schaut die reise- und lebenslustige Gräfin Bentinck vorbei , der junge Lessing streut seinen kritischen Geist in die Runde, Klopstock und Goethe geben ihre studentischen Gastspiele und bringen neue Farben in die Konversation, aber auch ein ungeniert geringschätziges Frauenbild. Klatsch und Intrigen, Bosheiten und Missgunst sind im heraufdämmernden Licht der Vernunft stets mit von der Partie und steigern das Amüsement.
Trotz der dezidiert weiblichen Perspektive hat der Roman keinen agitatorischen Sound
Man debattiert über Künste und Wissenschaften, Theater und Sprache, Philosophie und Religion, aber noch kaum über Politik. Noch sitzen die feudalen Regenten Europas fest im Sattel; der aufgeklärte Preußenkönig Friedrich II. schenkt Bach nicht nur ein Fugenthema, sondern überfällt im Jahr 1756 Sachsen aus Habgier und plündert Leipzig aus. Auch die Schatten des Krieges und die Mühsal des Alltags nimmt Angela Steidele in den Blick, und gleichsam als Gegengewicht gewährt sie der Musik Bachs, ihrer Entstehung und Ausführung breiten Raum, mal kundig, mal unbekümmert spekulativ, und macht sie ihrerseits zum Gegenstand erhellender Debatten.
Trotz ihrer dezidiert weiblichen Perspektive und trotz der Durchsetzungskraft, die sie den Frauengestalten der Frühaufklärung zuschreibt, hat Steidele dem Roman keinen agitatorischen Sound mitgegeben. Vielmehr stellt sie in ihrem Disput-Tableau eine Art Gleichberechtigung her, die jeder einzelnen Figur ihre Stärken wie ihre Defizite zugesteht. Ihr gelingen pointierte kleine Charakterskizzen, ohne dass sie dem historischen Personal peinlich nahe rückt. Auch hat sie eine Sprache gefunden, die angenehm frei von Manierismen ist, sich weder dem 18. Jahrhundert noch der Gegenwart anbiedert . Wenn allerdings ein Herr Laurentius Gugl für kostenloses Wissen plädiert und ein Herr Stephan Jobst die Substitution von Büchern durch Maschinen prophezeit, kann man diese zukunftsweisenden Anspielungen etwas albern finden. Aber sie fügen sich in den leichten, lockeren Ton und in das Anliegen, ein heutiges Publikum mit einer Vergangenheit ins Gespräch zu bringen, die uns jede Menge uneingelöste Versprechen und unvollendete Projekte hinterlassen hat.