Deutsche Literatur:Atmender Geist

Deutsche Literatur: Angela Krauß: Der Strom. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 94 Seiten, 20 Euro.

Angela Krauß: Der Strom. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 94 Seiten, 20 Euro.

Die Poétesse hat alle Zeit der Welt, aber warum benötigt der Paketmann für den Aufstieg in den vierten Stock ein ganzes Kapitel? Angela Krauß bewegt sich ihrem Prosawerk "Der Strom" hin zur "Essenz der Dinge".

Von Jörg Magenau

Achtung, Achtung, es geht um die Dichtung! So rief Angela Krauß' Ich-Erzählerin vor dreißig Jahren, noch in der DDR, dramatisch aus, als sie in der Klempnerwerkstatt dem Meister gegenüberstand. Der hatte, wie damals üblich, alle Zeit der Welt. Er klopfte mit dem Kugelschreiber den Takt der Ewigkeit auf den Tresen, und es war ihm herzlich egal, ob es bei der Kundin, die ihm gegenüberstand, aus der Leitung tropfte, rieselte oder rann. "So lebte die Menschheit über Jahrtausende inmitten des Anfassbaren", schreibt Angela Krauß in ihrem neuen Prosakunststück "Der Strom", denn auch der Klempnermeister wäre mit etwas Anfassbarem, nämlich einer Flasche französischen Weinbrands, augenblicklich umzustimmen gewesen. Aber dann folgte das Ende der DDR, und die Wende ließ die Hoffnung auf filigranere Stofflichkeit wachsen: "Mehr Geist zur Materie. Zur Erde mehr Himmel." Das mag paradox erscheinen, doch es brauchte wohl die westliche Warenwelt und die plumpe Anwesenheit der Dinge, um ihre Verzichtbarkeit zu erkennen und über sie hinaus zu gelangen.

Um diese Bewegung hin zur "Essenz des Daseins" geht es in den Büchern von Angela Krauß seit eh und je. Ihr literarisches Terrain veränderte sich dabei kaum. Stets bewohnt ihre Heldin einen Altbau in Leipzig, wo sie aus der vierten Etage über die Baumwipfel und über die Rangiergleise der Bahn hinwegschaut und vom nahen Zoo das Trompeten der Elefanten vernimmt. Die Erzählerin musste ihren Ort nicht verlassen, um die Veränderung der Welt zu registrieren. Geschichtlichkeit hat sich in alle Dinge eingeschrieben, und es gab wohl kaum eine Generation vor ihr, die so sehr mit historischem Wandel konfrontiert wurde. Doch so sehr ihr Blick auch durch die Zäsur von 1989 bestimmt sein mag, löst Angela Krauß die Dinge und die Verhältnisse aus der Verankerung im geschichtlichen Boden und bringt sie zum Schweben. Das macht ihren poetischen Zugriff aus.

Mittlerweile hat sich auf dem Güterbahnhofsgelände ein französisches Restaurant eingerichtet, wo sie, die sich nicht ohne Selbstironie "Poétesse" nennt, gerne an einem Tisch sitzt, um mit dem Patron ins Gespräch zu kommen. Oder sie wartet einfach, dass sich etwas einstellt, ein Gedicht zum Beispiel, das sich nicht herbeizwingen lässt, weil es kommt, wann es will. Der Tisch im Restaurant ist ihr Kraftpol. Hier spürt sie einen "Zustrom", der sie durchdringt und elektrisiert, an der Grenze zum Schmerz. Dieser titelgebende "Strom" ist eine Kraft, die sie mit hohem Druck aus ihrem Körper herauszupressen scheint.

"Jemand muss uns heimlich bewohnen, jemand immerzu Glückliches."

Dass die Welt sich nicht anders erschließen lässt als mittels dieses Körpers, ist das Rätsel und das Wunder schlechthin. Der Anfassbarkeit der Dinge korrespondiert die Leiblichkeit der Existenz. Der Patron macht die Erzählerin darauf aufmerksam, dass Gegenwart als reines Jetzt am besten durch den leiblichen Genuss erzwungen wird. Deshalb bereitet er feine Speisen zu. Deshalb erscheint der Erzählerin das Dessert wie ein Kuss, und der aus Staunen und Erwartung geborene Kuss wie ein Gedicht.

Die Poétesse hat - wie einst der Klempnermeister - alle Zeit der Welt, solange ihr Mäzen, der ein Verehrer der Poesie ist und im übrigen im fernen La Jolla Tennis spielt, sich um sie kümmert, ohne etwas von ihr zu verlangen. Auch sie verlangt nichts von sich, sondern beschränkt sich darauf, wahrzunehmen, zu empfinden, offen zu sein. Handlung ist nicht nur innerhalb der Prosa störend, sondern auch im Leben.

Einst habe es sie nach einer Tat verlangt, schreibt sie, weil um sie herum so viel gehandelt wurde: "Die Tat räumt augenblicklich aus dem Weg, was bremst." Doch dadurch verhindert sie zugleich, dass "inwendig" etwas entsteht, verhindert das Gedicht als "atmenden Geist". Man kann dieses schmale Buch als eine poetologische Anleitung lesen, als Bericht aus jenem inneren Raum, in dem die Worte sich bilden, ohne dass die Dichterin zu sagen wüsste, wie das geschieht. Nicht nur das Handeln würde dabei stören, sondern auch das Verstehen. Angela Krauß hält das Verstehen für eine Art Trost- oder gar Wahnvorstellung, für einen Bremsklotz, der das Fließende, Offene, Ereignishafte festlegt und damit beendet. Stattdessen setzt sie auf Leiblichkeit, Gegenwart, Staunen, Perspektivwechsel und Erwartung.

Der Höhepunkt des Geschehens ist folglich der Moment, in dem etwas nicht Erwartetes eintrifft. Da klingelt es an der Tür, und es ist nicht zufällig der dem griechischen Götterhimmel entsprungene "Hermesbote", der sich meldet. Ein ganzes Kapitel benötigt der Paketmann für den Aufstieg in den vierten Stock. Während die Erzählerin seinen sich langsam nähernden Schritten im Treppenhaus lauscht und die Erwartung auf das nicht erwartete Paket steigt, wird ihr bewusst, was Erwartung ist - nämlich "etwas Natürliches von Anbeginn an, etwas Elementares wie das Atmen". Und darauf kommt es ihr an.

"Der Strom" hat wie alle Bücher von Angela Krauß keine Gattungsbezeichnung, ist weder Erzählung, noch Lyrik, sondern funktioniert wie ein Kaleidoskop, das aus farbigen Splittern wechselnde, fragile Bilder erzeugt. Krauß hat ihre Prosa einmal als "Rede in Versen" bezeichnet, "die uns daran erinnert, wo wir inmitten rasanter Bewegungen zuhause sind". Das gilt zumindest für das in Versen gehaltene sechste Kapitel und den schwebenden Schluss mit immer leichteren Sätzen. Ihre Gegenwartssüchtigkeit entstammt einer Freude am Dasein, die in dem Schlusssatz gipfelt: "Jemand muss uns heimlich bewohnen, jemand immerzu Glückliches." Dass dieser Jemand wir selber sind, das wusste sie schon in ihrem vorigen Buch "Die Wiege", wo es hieß: "Ich bin ein Kind, / aber nicht dieses. / Ich bin das andere, / das mich bewohnt." Vielleicht ist es dieses Kind, das da um Worte ringt.

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